Die große Zukunft des Buches
gedenke der Nacht, deren Morden / Zur ewigen Nacht einem Volke geworden!« (III.8) Nach Auschwitz liest man diese Zeilen anders. Der junge Racine hat uns hier schon einen Genozid beschrieben.
U. E.: Das ist die Geschichte des Pierre Menard von Borges. Er stellt sich vor, ein Autor würde versuchen, den Quijote noch einmal zu schreiben, wobei er sich die gesamte spanische Kultur des 17. Jahrhunderts aneignet. Er schreibt also einen Quijote , der Wort für Wort identisch ist mit dem des Cervantes, der Sinn aber ändert sich, weil derselbe Satz, heute gesagt, nicht dieselbe Bedeutung hat wie damals. Und wir lesen ihn auch in anderer Weise, aufgrund der unendlich vielen Lesarten, die der Text hervorgebracht hat und die wie ein fester Bestandteil davon geworden sind. Das unbekannte Meisterwerk dagegen hat diese Chance nicht bekommen.
J.-C. C.: Das Meisterwerk kommt nicht als solches auf die Welt, es wird dazu. Man muss hinzufügen, dass sich die großen Werke durch uns hindurch gegenseitig beeinflussen. Zweifelsohne können wir erklären, wieviel Einfluss Cervantes auf Kafka hatte. Aber wir können auch sagen – Gérard Genette hat es deutlich gezeigt –, dass Kafka Cervantes beeinflussthat. Wenn ich Kafka vor Cervantes lese, wird Kafka durch mich hindurch und ohne mein Wissen meine Lektüre des Quijote modifizieren. Desgleichen unser Lebensweg, unsere persönlichen Erfahrungen, die Epoche, in der wir leben, die Informationen, die wir bekommen, selbst unsere häuslichen Missgeschicke oder die Probleme unserer Kinder, all das beeinflusst unsere Lektüre älterer Werke.
Manchmal schlage ich Bücher zufällig irgendwo auf. So schlug ich letzten Monat den Quijote auf, den letzten Teil, der weniger gelesen wird. Sancho ist zurückgekehrt von seiner »Insel« und trifft einen seiner Freunde, Ricote genannt, ein Moriske, das heißt ein zum Christentum konvertierter Maure. Durch ein königliches Dekret (das ist historische Tatsache) ist soeben beschlossen worden, ihn nach Hause in die Berberei, nach Afrika zurückzuschicken, ein Land, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht und dessen Religion er nicht praktiziert, da er wie seine Eltern in Spanien geboren ist und sich einen guten Christen nennt. Diese Stelle ist erstaunlich. Sie spricht unmittelbar von uns, direkt und völlig unverstellt: »Und nirgendwo bereitet man uns einen so freundlichen Empfang, wie wir ihn uns in diesem Unglück ersehnten«, sagt die Figur. Autorität, Nähe und Aktualität eines großen Buches: Wir schlagen es auf, und es spricht von uns. Weil wir seither gelebt haben, weil unsere Erinnerung zu dem Buch hinzugetreten ist, sich damit vermengt hat.
U. E.: So ist das bei der Mona Lisa . Die schönsten Sachen hat Leonardo meines Erachtens beispielsweise bei der Madonna in der Felsengrotte oder bei der Dame mit dem Hermelin gemacht. Aber die Mona Lisa ist öfter gedeutet worden, und mit der Zeit haben sich diese Deutungen wie Schichten aufder Leinwand abgelagert und haben sie verändert. All das hat Eliot bereits in seinem Essay über Hamlet gesagt. Hamlet ist kein Meisterwerk, es ist eine chaotische Tragödie, der es nicht gelingt, die verschiedenen Quellen harmonisch zu vereinen. Aus diesem Grund ist das Stück zum Rätsel geworden, und alle Welt fragt immer wieder nach seinem Gehalt. Hamlet ist kein Meisterwerk wegen seiner literarischen Qualitäten; es ist ein Meisterwerk geworden, weil es sich unseren Deutungen widersetzt. Manchmal genügt es, sinnlose Worte auszusprechen, um den Ruhm der Nachwelt zu erlangen.
J.-C. C.: Und dann die Wiederentdeckungen. Ein Werk durchmisst die Zeit und scheint auf seine Stunde des Ruhms zu warten. Das Fernsehen fragte bei mir an, ob ich den Vater Goriot verfilmen möchte. Ich hatte den Roman seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr gelesen. Also setzte ich mich eines Abends hin, um einen Blick hineinzuwerfen. Ich konnte nicht mehr aufhören, bis ich es zu Ende gelesen hatte, gegen drei, vier Uhr morgens. Ich fühlte eine solche Intensität auf diesen Seiten, eine solche Energie des Schreibens, dass ich die Augen keinen Moment lang davon lösen konnte. Wie kommt es, dass Balzac, der zweiunddreißig Jahr alt war, als er dieses Buch schrieb, nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, die Beziehungen eines alten Mannes zu seinen Töchtern auf so grausame, so präzise und so treffende Weise bloßlegen konnte? Zum Beispiel erzählt Goriot Rastignac, der mit ihm in derselben Pension lebt,
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