Die große Zukunft des Buches
ich wären die einzigen Personen weit und breit, die lesen und schreiben können. Wir könnten vorgeben, geheimnisvolle Kontakte zu pflegen, gefährliche Offenbarungen und einen Briefwechsel, dessen Wortlaut niemand überprüfen könnte.
J.-P. DE T.: Zu diesem Thema der Buchverehrung führt Fernando Baez in seiner schon erwähnten Universalgeschichte der Bücherzerstörung Johannes Chrysostomos an; der berichtete von gewissen Personen, die im 4. Jahrhundert alte Manuskripte um den Hals gebunden trugen, um sich vor den Mächten des Bösen zu schütze n.
J.-C. C.: Das Buch kann ein Talisman sein, aber auch Mittel der Hexerei. Die spanischen Mönche, die in Mexiko die Kodizes verbrannten, rechtfertigten sich mit der Behauptung, diese Bücher besäßen böse Kräfte. Was vollkommen widersprüchlich ist. Denn wenn sie selbst mit der Kraft des wahren Gottes kamen, wie hätten da die falschen Götter ihnen gegenüber noch irgendwelche Macht haben sollen? Dasselbe wurde von den tibetischen Büchern behauptet, die manchmal angeklagt wurden, gefährliche esoterische Lehren zu enthalten.
U. E.: Kennen Sie die Studie des Raimondo di Sangro, Prinz von Sansevero, über das Quipu?
J.-C. C.: Meinen Sie die Knotenschnur der Inkas, die sie verwendeten, um das Fehlen der Schrift auszugleichen?
U. E.: Genau. Madame de Graffigny schrieb die Briefe einer Peruanerin , einen Roman, der im 18. Jahrhundert enormen Erfolg hatte. Raimondo di Sangro, ein neapolitanischer Prinz und Alchimist, vertiefte sich damals in das Buch der Madame de Graffigny und brachte diese wunderbare Untersuchung der Quipu mit farbigen Zeichnungen heraus.
Dieser Prinz von Sansevero ist eine außerordentliche Gestalt. Vermutlich Freimaurer und Okkultist, kennt man ihn, weil er in seiner Kapelle in Neapel Skulpturen von enthäuteten menschlichen Körpern anfertigen ließ, bei denen das System der Blutgefäße bloßliegt, und das Ganze ist so realistisch, dass man immer angenommen hat, er habe an lebenden menschlichen Körpern gearbeitet, vielleicht Sklaven, denen er bestimmte Substanzen injizierte, um sie auf diese Weise zum Erstarren zu bringen. Wenn Sie nach Neapel kommen, müssen Sie unbedingt die Krypta der Kapelle Sansevero besuchen und sich diese Figuren ansehen. Diese Körper sind so etwas wie ein Vesalius in Stein.
J.-C. C.: Sie können sicher sein, dass ich das nicht versäumen werde. Im Zusammenhang mit der Knotenschrift, die zu den erstaunlichsten Kommentaren Anlass gegeben hat, muss ich an diese großformatigen Figuren denken, die man in Peru gefunden hat und von denen abenteuerliche Geister erzählen, sie seien angelegt worden, um außerirdischen Wesen Botschaften zu übermitteln. Zu diesem Thema will ich Ihneneine Novelle von Tristan Bernard erzählen. Eines Tages entdecken die Erdbewohner, dass ihnen von einem entfernten Planeten Signale zugesandt werden. Sie stimmen sich ab, um herauszufinden, was diese Signale sind, die sie nicht entschlüsseln können. Sie beschließen, sehr große Buchstaben von mehreren Dutzend Kilometern Länge in den Sand der Sahara zu zeichnen und das kürzestmögliche Wort zu schreiben. Sie entscheiden sich für »Gefällt es?«. Sie schreiben also sehr groß »Gefällt es?« in den Sand, was sie Jahrzehnte Arbeit kostet. Und sie sind alle hoch erstaunt, als sie wenig später folgende Antwort erhalten: »Danke, ja, aber unsere Botschaft ist nicht an euch gerichtet.«
Diese kleine Abschweifung, um Sie zu fragen, Umberto: Was ist ein Buch? Ist jeder Gegenstand, der lesbare Zeichen trägt, ein Buch? Sind die römischen volumina Bücher?
U. E.: Ja, wir betrachten sie als Teil der Geschichte des Buches.
J.-C. C.: Man wäre versucht zu sagen, das Buch ist ein Gegenstand, den man liest. Doch das ist nicht exakt. Eine Zeitung liest man, und sie ist kein Buch, genauso wenig wie ein Brief, ein Grabstein, ein Transparent auf einer Demonstration, ein Etikett oder mein PC-Bildschirm.
U. E.: Mir scheint, eine mögliche Charakterisierung des Buches könnte sein, es analog zum Unterschied zwischen einer Sprache und einem Dialekt zu betrachten. Kein Linguist kennt den Unterschied. Dennoch ließe er sich veranschaulichen, indem wir sagen, ein Dialekt ist eine Sprache ohne Armee und ohne Flotte. Das ist der Grund, weshalb wir zum Beispieldas Venezianische als Sprache betrachten, weil das Venezianische im Schriftverkehr von Diplomatie und Handel verwendet wurde. Was im Gegensatz dazu beim piemontesischen
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