Die große Zukunft des Buches
wird ausgehend davon der schlichte Vorgang des Schreibens mit einer fast magischen Bedeutung aufgeladen, als ob der Besitzer dieses unvergleichlichen Instruments, der Schrift, sich einer geheimen Beziehung zu Gott, zu den Geheimnissen der Schöpfung erfreute. Auch müssen wir uns fragen, welche Sprache das Wort für seine Inkarnation gewählt hat. Wenn Christus sich unsere Zeit ausgesucht hätte, um uns einen Besuch abzustatten, hätte er ganz sicher das Englische gewählt. Oder das Chinesische. Aber er drückte sich auf Aramäisch aus, das dann ins Griechische und ins Lateinische übersetzt wurde. All diese Übertragungen gefährden natürlich den Inhalt der Botschaft. Hat er wirklich gesagt, was wir ihn sagen lassen?
U. E.: Als man im 19. Jahrhundert an den Schulen in Texas Fremdsprachenunterricht einführen wollte, sprach sich ein Senator entschieden dagegen aus, mit einem Argument, in dem viel gesunder Menschenverstand steckt: »Wenn Jesus das Englische genügte, dann brauchen wir auch keine anderen Sprachen.«
J.-C. C.: In Indien ist das eine andere Sache. Es gibt natürlich Bücher, gewiss, aber die orale Tradition steht immer noch in sehr hohem Ansehen. Sie gilt als verlässlicher, auch heute noch. Warum? Die alten Texte werden in der Gemeinschaft rezitiert und vor allem gesungen. Wenn jemand einen Fehler macht, ist die Gruppe da und macht ihn darauf aufmerksam. Die mündliche Weitergabe der großen Epen über fast tausend Jahre hinweg scheint also präziser zu sein als unsere Abschriften durch die Mönche, die in ihren Skriptorien die alten Texte von Hand kopierten, dabei die Fehler ihrer Vorgängerübernahmen und selbst neue hinzufügten. In der indischen Vorstellungswelt gibt es diese Idee einer Bindung des Worts an das Göttliche nicht, auch nicht an die Schöpfung. Ganz einfach, weil die Götter selbst erschaffen wurden. Am Anfang wogt ein grenzenloses Chaos, durchzogen von musikalischen Schwingungen oder Tönen. Diese Töne verklingen nach Millionen von Jahren und werden zu Vokalen. Langsam fügen sie sich zusammen, stützen sich auf Konsonanten und verwandeln sich in Worte, diese Worte fügen sich ihrerseits zusammen und bilden die Veden. Die Veden haben also keinen Autor. Sie sind ein Produkt des Kosmos, und das verleiht ihnen Autorität. Wer würde es wagen, das Wort des Kosmos anzuzweifeln? Aber wir können, ja wir müssen sogar versuchen, sie zu verstehen. Denn die Veden sind sehr dunkel, wie die unermesslichen Tiefen, aus denen sie hervorgegangen sind. Wir brauchen also Kommentare, um sie zu erhellen. So entstehen die Upanischaden, die zweite Kategorie von Grundlagentexten in Indien, und zuletzt kommen die Autoren. Zwischen den Texten der zweiten Kategorie und den Autoren treten die Götter in Erscheinung. Es sind die Worte, die die Götter erschaffen, nicht umgekehrt.
U. E.: Es ist kein Zufall, dass die Inder die ersten Linguisten und Grammatiker waren.
J.-P. DE T.: Können Sie uns erzählen, wie Sie zur »Buchreligion« gekommen sind? Ihre ersten Kontakte mit Büchern?
J.-C. C.: Ich bin auf dem Land geboren, in einem Haushalt ohne Bücher. Mein Vater las immer wieder ein einziges Buch, ich glaube, sein ganzes Leben lang: Valentine von GeorgeSand. Wenn man ihn fragte, warum er es immer wieder lese, antwortete er: »Ich liebe es sehr, warum sollte ich andere Bücher lesen?«
Die ersten Bücher, die ins Haus kamen – abgesehen von ein paar alten Gebetbüchern –, waren meine Kinderbücher. Ich glaube, das erste Buch, das ich in meinem Leben überhaupt gesehen habe, war die Heilige Schrift, aufgeschlagen auf dem Altar, deren Seiten der Priester voller Ehrfurcht umblätterte. Mein erstes Buch war also ein Gegenstand der Verehrung. Damals kehrte der Priester der Gemeinde noch den Rücken zu und verlas das Evangelium mit großer Inbrunst, die ersten Zeilen sogar singend: »In illo tempore, dixit Jesus discipulis suis …«
Die Wahrheit kam also in Form von Gesang aus einem Buch. Es ist tief in mir verwurzelt, dass ich dem Buch einen privilegierten, ja einen heiligen Platz zuweise, für mich thront es mehr oder weniger immer noch auf dem Altar meiner Kindheit. Insofern es ein Buch ist, enthält das Buch eine Wahrheit, die über den Menschen hinausgeht.
Merkwürdigerweise habe ich dieses Gefühl viel später in einem Film von Stan Laurel und Oliver Hardy wiedergefunden, die zu meinen Lieblingsfiguren zählen. Laurel sagt etwas, ich weiß nicht mehr was. Hardy ist erstaunt und
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