Die große Zukunft des Buches
dass es im Hinduismus kein Buch gibt. Es gibt keinen geschriebenen Text. Man gibt den Gläubigen nichts zu lesen oder zu singen, weil sie in der Mehrzahl Analphabeten sind.
Das ist zweifellos der Grund, weshalb wir im Westen so beharrlich von »Buchreligionen« sprechen. Die Bibel, das Neue Testament und der Koran haben hohes Prestige. Sie sind nicht für die Ungebildeten da, nicht für die Ignoranten oder die niederen Schichten. Sie werden wahrgenommen nicht als von Gott geschrieben, aber praktisch unter seinem Diktat und seiner Eingebung zustande gekommen. Der Koran wird unter dem Diktat eines Engels niedergeschrieben, und der Prophet, von dem verlangt wird, er solle »lesen« (das ist der allererste Befehl), muss zugeben, dass er es nicht kann, dass er es nicht gelernt hat. Also wird ihm die Gabe verliehen, die Welt zu lesen und auszusagen. Die Religion, der Kontakt mit Gott, erhebt uns zur Erkenntnis. Das Lesen ist die Hauptsache.
Die Evangelien kommen dank der Zeugenschaft der Apostel zustande, die sich das Wort des Gottessohnes gemerkt haben. In der Bibel ist das in den jeweiligen Büchern unterschiedlich. Es gibt keine andere Religion, in der das Bucheine solche Rolle des Bindeglieds zwischen der Welt des Göttlichen und der des Menschlichen spielt. Gewisse hinduistische Texte sind heilig, wie die Bhagavad-Gita . Aber sie zählen wiederum nicht zu den eigentlichen Kultobjekten.
J.-P. DE T.: Wurde in der griechischen und römischen Welt das Buch verehrt?
U. E.: Nicht als religiöses Objekt.
J.-C. C.: Vielleicht haben die Römer die Sibyllinischen Bücher verehrt, worin die Prophezeiungen der griechischen Priesterinnen aufgezeichnet waren und die von den Christen verbrannt wurden. Die zwei »heiligen« Bücher der Griechen waren zweifellos Hesiod und Homer. Aber man kann nicht behaupten, es handle sich dabei um religiöse Offenbarungen.
U. E.: In einer polytheistischen Kultur kann es keine höchste Autorität geben, die allen anderen überlegen wäre, daher hat der Begriff eines einzigen »Autors« der Offenbarung hier keinen Sinn.
J.-C. C.: Das Mahabharata ist von Vyasa geschrieben, einem Sänger, dem indischen Homer. Aber hier sind wir in einer Epoche vor der Schrift. Vyasa, der erste Autor, kann nicht schreiben. Er erklärt, »das große Gedicht der Welt« komponiert zu haben, in dem alles gesagt wird, was wir wissen müssen, aber er kann es nicht niederlegen, denn er kann nicht schreiben. Die Menschen – oder die Götter – haben die Schrift noch nicht erfunden. Vyasa braucht jemanden, um aufzuschreiben, was er weiß, um dank der Schrift dieWahrheit unter den Menschen aufzurichten. Aus diesem Anlass schickt Brahma ihm den Halbgott Ganesha, der tritt auf mit seinem kleinen runden Bauch, seinem Elefantenkopf und Schreibzeug. Als er anfangen will zu schreiben, bricht er einen seiner Stoßzähne ab und taucht ihn ins Tintenfass. Aus diesem Grund wird Ganesha immer mit abgebrochenem rechtem Stoßzahn dargestellt. Im Übrigen besteht zwischen Ganesha und Vyasa während der gesamten Niederschrift des Gedichts eine produktive Rivalität. Das Mahabharata entsteht also gleichzeitig mit der Schrift. Es ist das erste geschriebene Werk.
U. E.: Das wird auch von den Epen Homers gesagt.
J.-C. C.: Die Verehrung für die Gutenberg-Bibel, von der wir schon sprachen, erklärt sich vollkommen im Kontext unserer Buchreligionen. Die moderne Geschichte des Buches beginnt auch mit einer Bibel.
U. E.: Aber diese Verehrung betrifft vor allem die Kreise der Bibliophilen.
J.-C. C.: Wie viele Exemplare gibt es davon? Wissen Sie das?
U. E.: Die Angaben sind nicht einheitlich. Wir können davon ausgehen, dass wahrscheinlich zwei- oder dreihundert Exemplare davon gedruckt wurden. Achtundvierzig haben bis heute überlebt, zwölf davon auf Pergament gedruckt. Vielleicht schlummern noch einzelne bei irgendwelchen Privatleuten. Bei unserer ahnungslosen alten Dame von vorhin, die bereit wäre, sie abzugeben.
J.-C. C.: Die Tatsache, dass das Buch derart sakralisiert werden konnte, zeugt von der hohen Bedeutung, die Schreiben und Lesen erlangten und im weiteren Verlauf der Kulturgeschichte auch beibehalten haben. Woher käme sonst die Macht der Gelehrten in China? Die der Schreiber in der ägyptischen Kultur? Das Privileg, lesen und schreiben zu können, war einer sehr kleinen Gruppe von Menschen vorbehalten, die daraus außerordentliche Autorität bezogen. Stellen Sie sich vor, Sie und
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