Die großen Vier
eine schwache Bewegung der Brust ließ erkennen, dass er noch lebte. Ein Arzt stand neben seinem Bett und prüfte seinen Pulsschlag.
«Lange wird es nicht mehr dauern», flüsterte er mir zu, «kennen Sie ihn?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Ich habe ihn noch nie gesehen.»
«Was hatte denn der Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse zu bedeuten? Sie sind doch Hauptmann Hastings, nicht wahr?»
«Jawohl, und doch kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, um wen es sich hier handelt.»
«Merkwürdige Angelegenheit – aus seinen Papieren ist ersichtlich, dass er der Diener eines Mannes mit Namen Ingles gewesen ist – und zwar ein solcher, der nicht mehr in seinen Diensten stand. Nun wissen Sie wohl, wer er ist?», fügte er schnell hinzu, als er sah, dass ich bei Nennung des Namens Ingles aufhorchte.
Der Diener von Mr Ingles! Dann musste ich ihn schon einmal gesehen haben, obgleich ich niemals fähig gewesen wäre, einen Chinesen vom anderen zu unterscheiden. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er mit Mr Ingles auf dem Weg nach China gewesen und nach dessen Verschwinden nach England zurückgekehrt war – möglicherweise mit einer wichtigen Nachricht für mich. Es war also von großer Bedeutung, hierüber etwas in Erfahrung zu bringen.
«Ist er bei Bewusstsein?», fragte ich. «Kann er sprechen? Mr Ingles war ein alter Freund von uns, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser arme Kerl uns eine Nachricht überbringen sollte. Es besteht die Annahme, dass Mr Ingles einem Unglücksfall zum Opfer gefallen ist.»
«Er ist zwar bei Bewusstsein, jedoch zweifle ich, dass er die Kraft zum Sprechen hat, denn er hat eine Unmenge Blut verloren. Ich kann ihm allerdings noch eine Spritze zur Herzbelebung verabfolgen, aber wir haben schon das Äußerste in dieser Richtung getan.»
Dem Sterbenden wurde noch eine weitere Injektion verabreicht, während ich am Bett verblieb in der vagen Hoffnung auf ein Wort oder Zeichen, das für mich und meine Arbeit so unendlich wertvoll war. Doch die Minuten vergingen, und nichts ereignete sich.
Als ich so untätig wartend dastand, gingen mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. War ich nicht bereits wieder im Begriffe, in eine Falle zu gehen? Angenommen, dieser Chinese hatte nur die Rolle eines Dieners von Mr Ingles zu spielen und war in Wirklichkeit ein Werkzeug der Großen Vier? Hatte man nicht schon verschiedentlich davon gelesen, dass gewisse chinesische Fanatiker in der Lage waren, ihren Tod vorzutäuschen? Oder, um noch weiter zu gehen, konnte Li Chang Yen nicht so viel Macht auf diesen Mann ausgeübt haben, dass dieser sogar bereit war, den Tod auf sich zu nehmen, um seinem Herrn dienstbar zu sein? Ich musste mit allem rechnen. Gerade als mir diese Gedanken im Kopf herumgingen, bewegte sich der Mann in seinem Bett, und er öffnete die Augen. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes, dann blieb sein Blick auf meinem Gesicht haften. Er gab zwar kein Zeichen des Erkennens, aber ich wusste sofort, dass er versuchte, mir etwas zu sagen. Mochte er Freund oder Feind sein, ich musste hören, was er mir mitzuteilen hatte. Ich beugte mich über ihn, jedoch ließen seine undeutlich gestammelten Worte keinen Sinn erkennen. Ich glaubte das Wort «Hand» herauszuhören, aber in welchem Sinn es gemeint war, war nicht festzustellen. Dann wieder kam ein Laut über seine Lippen, diesmal vermeinte ich das Wort «Largo» zu hören. Mit Mühe versuchte ich die beiden Worte miteinander in Verbindung zu bringen.
«Händeln ‹Largo›?», forschte ich.
Des Chinesen Augenlider flackerten in schneller Folge, wie zustimmend, und er fügte ein weiteres italienisches Wort hinzu, das etwa wie «Carrozza» klang. Zwei oder drei weitere italienisch klingende Worte waren vernehmbar, doch dann fiel er ganz plötzlich zurück. Der Doktor bat mich, zur Seite zu treten; es war vorüber, der Mann war tot.
Ich ging hinaus an die frische Luft und war vollkommen verwirrt. Händels «Largo» und dann wieder Carrozza. Ich erinnerte mich daran, dass Carrozza so viel wie ein Gefährt bedeutete: Welcher Sinn war wohl in jenen Worten enthalten? Der Mann war ein Chinese und kein Italiener, wie kam es, dass er italienische Worte hervorgebracht hatte? Wenn er tatsächlich der Diener von Mr Ingles gewesen wäre, dann hätte er doch englisch sprechen können. Die ganze Sache erschien mir in höchstem Grade geheimnisvoll. Auf meinem Heimweg versuchte ich die ganze Zeit über, zu einer plausiblen Erklärung zu
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