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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Bergers Hand loslassen und am Geländer entlang zum Balkon kriechen. Sie sah ihn. Er schien eher vier Meilen als vier Meter entfernt zu liegen. Aber das Feuer war schlimmer.
    Sie streckte die Beine in den hochhackigen Stiefeletten, die sie hätte ausziehen sollen, und versuchte, mit den Füßen Halt zu finden. Ihre Hand lag immer noch in Stéphane Bergers, und sie wollte seine große Hand nicht loslassen, sie empfand sie im Augenblick als einzige Sicherheit in ihrem Leben.
    Mit einem metallischen Laut schlug etwas in das Dachblech ein paar Dezimeter von ihrem Kopf entfernt.
    – Verdammt, sagte Berger leise, er hat uns gesehen.
    Starr vor Entsetzen drehte Martine den Kopf und sah einen Mann mit Gewehr auf dem Boden, zwischen den Bäumen. Ein weiterer Schuß schlug ins Dachblech ein, diesmal weiter weg. Es mußte schwer sein, nach oben zu schießen, deshalb verfehlte er sie wohl, obgleich ihre blonden Haare auf dem grünen Dach eine fast perfekte Zielscheibe sein mußten.
    Bergers Kopf in der Fensteröffnung zeichnete sich jetzt vor einem Hintergrund sich verdichtenden Rauchs ab. Was würde er tun? Auf dem Dach bleiben, um erschossen zuwerden, oder versuchen, ins Haus zurückzukommen, um zu ersticken?
    Berger entschied die Sache, indem er ihre Hand losließ. Einen entsetzlichen Augenblick glaubte sie, sie würde hinunterfallen, aber ihre Füße standen immer noch auf dem Falz. Sie blieb also auf dem Dach und legte sich der Länge nach an die Kante, in der schwachen Hoffnung, daß das Geländer sie vor Arnaud Morel verbergen würde.
    Sollte sie sich bewegen oder still liegen? Ein bewegliches Ziel müßte schwerer zu treffen sein. Sie begann, die Dachkante entlangzukriechen. Der Mann auf dem Boden schoß noch einmal zum Dach hinauf, aber die Kugel schlug weit von ihr entfernt auf das Dachblech.
    Jetzt war sie beinah am Balkon angekommen. Sollte sie das schützende Geländer verlassen und versuchen, auf ihn hinunterzuklettern? Sie sah sich selbst auf dem Dach hängen, exponiert für den Mann mit dem Gewehr. Sie drehte vorsichtig den Kopf und sah durch die Öffnung im Geländer, daß er weitergegangen war, ihren unsicheren Weg das Dach entlang verfolgt hatte und jetzt in gerader Linie vor dem Balkon stand, in einer Entfernung, die ihm den richtigen Schußwinkel verschaffen müßte. Den Rauch konnte man jetzt auch außerhalb des Hauses riechen. Sie fragte sich, ob Stéphane Berger in dem kleinen Raum unter dem Schrägdach immer noch lebte oder ob er den giftigen Brandgasen erlegen war wie einst seine Arbeitskollegen bei der Katastrophe, der er hatte entkommen können.
    Sie hatte das Gefühl, daß es jetzt fast keine Hoffnung mehr gab. Ihre einzige Frage war, ob das Ende durch Feuer oder durch Blei kommen würde.
    Konnte sie ihn ablenken? Wenn sie ihn dazu bringen konnte, anderswo hinzusehen, konnte sie vielleicht auf denBalkon hinuntergleiten, bevor er auf sie zielen konnte. Die Steinbrüstung des Balkons sah breit und sicher aus. Hinter ihr würde sie sich mehrere Minuten geschützt fühlen. Und jede Minute Leben empfand sie jetzt als Geschenk. Sie spürte die Sonne auf ihrem Gesicht, schmeckte den Geschmack von Salz und Blut in ihrem Mund, fühlte das Brennen in den Handflächen, die sie am Dach zerkratzt hatte, als sie kurz vor dem Abstürzen gewesen war, hörte das ständige Klopfen des Herzens in ihrem Körper, all das, was Leben war. Sie dachte an Thomas und daran, wieviel sie zusammen nicht hatten machen können, und an Jean-Louis und das Licht in einem weißen Zimmer in einer Privatklinik in der Schweiz.
    Mit einem Fuß versuchte sie ohne Erfolg, die Stiefelette an dem anderen abzustreifen. Schließlich gelang es ihr, sie abzuziehen, indem sie das Knie hochzog und die Ferse umfaßte.
    Es war schwer zu werfen, während sie lag, aber schließlich konnte sie die Stiefelette in die Luft schleudern, so daß sie in einem Gebüsch ein Stück vom Balkon entfernt landete. Morel drehte sich nach dem Geräusch um, und sie nutzte ihre Chance, schwang die Beine über das Geländer und glitt auf den Balkon hinunter.
    Aber er hatte sie gesehen. Ein Schuß traf die Balkonbrüstung. Sie kauerte sich in einer Ecke zusammen und versuchte, sich unsichtbar zu machen.
    Da hörte sie das Geräusch. Sirenen in der Ferne, oder war das eine Halluzination? Nein, sie kamen näher. Es klang wie mehrere Wagen. Sie hörte ein Geräusch unter dem Balkon, hob vorsichtig den Kopf und sah Morel rennend zwischen die Bäume verschwinden, während

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