Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
lebendig rauskommen, müssen Sie beide von mir grüßen. Aber Madame Lidelius lebt vielleicht nicht mehr?
– Doch, sie lebt, sagte Martine.
– Unglaublich, sagte Berger, sie muß doch inzwischen über neunzig sein. Wenn Sie Gelegenheit haben, müssen Sie Sophie folgendes erzählen, das wird ihr gefallen. Lou, Sie wissen, Louis Victor, meine rechte Hand? Ich habe ihn im Zug nach Marseille kennengelernt, als ich aus Schweden abgehauen war. Ich wollte die Sache mit der Fremdenlegion, von der Sophie und ich geredet hatten, angehen, ich fand, das klang spannend. Lou hieß damals anders, er war ein paar Jahre älter als ich und war auch unterwegs, um sich anwerben zu lassen. Ich hatte mich schon für »Stéphane Berger« entschieden, aber ihm fiel nichts ein. Da habe ich »Louis Victor« vorgeschlagen. Erzählen Sie das Sophie, sie weiß, wo es herkommt, sie wird herzlich lachen! Nun ja, wir waren auf dem Weg nach Marseille, aber ich bin unterwegs ausgestiegen, um mich von einem Mädchen, das ich im Zugkennengelernt hatte, ordentlich zu verabschieden, ich wollte einen späteren Zug nehmen. Aber der hatte eine halbe Stunde Verspätung, und als ich zum Rekrutierungsbüro der Legion kam, hatte es schon geschlossen. Da ging ich in ein billiges Hotel und danach in die Stadt, um etwas zu essen, und als ich da an der Theke saß, lernte ich einen jungen Mann kennen, der eine Autofirma aufgemacht hatte und jemanden brauchte, der sich um Finanzen und Buchführung kümmern konnte. Ich habe gesagt, in so was bin ich gut, ich hatte ja in Schweden einen Fernkurs gemacht. Er bot mir sofort den Job an, und da begann meine Karriere als Geschäftsmann Stéphane Berger.
– Und den Rest kenne ich, sagte Martine, aber was passierte, als Sie zurück nach Villette kamen? Morel war doch dagegen, daß Sie das Walzwerk aus Forvil herauskaufen.
Berger sah verdrossen aus.
– Das war er, ja, und das war etwas lästig. Da habe ich ihn aufgesucht, gesagt, daß ich die Sache unter vier Augen mit ihm diskutieren will. Er erkannte mich natürlich nicht, aber ich habe ihn erinnert. Ich habe gesagt: »Du erinnerst dich bestimmt nicht an mich, Morel, aber du erinnerst dich vielleicht an das Papier, das ich nach dem Grubenunglück an mich genommen habe? Ich veröffentliche es vielleicht, wenn du weiter gegen mich arbeitest.« Er gab so schnell nach, daß ich mich gewundert habe, aber da wußte ich das mit Giovanna und Tonio ja noch nicht. Ich habe ihm gesagt – und das war sicher mein Glück –, daß ich dafür gesorgt habe, daß das Papier veröffentlicht würde, falls mir etwas passierte oder falls jemand anfangen würde, Fragen nach Istvan Juhász zu stellen …
– Aber warum mußten Sie verbergen, daß Sie Istvan waren, fragte Martine, das war doch eigentlich nichts, was geheimgehalten werden mußte?
Berger zuckte die breiten Achseln.
– In den ersten Jahren war mir viel daran gelegen, sagte er, es gab einige kleine Unanehmlichkeiten, als ich Schweden verließ, deretwegen ich die Identität wechseln wollte, und dann wurde es mehr eine Gewohnheit. Es war mir jedenfalls lieber, wenn Morel nicht verriet, wer ich war, und das ließ ich ihn wissen. Wenn du mein Geheimnis verrätst, verrate ich deines, habe ich gesagt. Und er hatte ja am meisten zu verlieren. Obwohl ich ja damals leider noch nicht wußte, wie viel für ihn auf dem Spiel stand.
Aber Berger hatte auch einiges zu verlieren gehabt, dachte Martine. Istvan Juhász hatte Geld veruntreut, bevor er eilig aus Granåker verschwunden war, und Berger hätte Schwierigkeiten bekommen, in Schweden Geschäfte zu machen, wenn er als der veruntreuende Istvan entlarvt worden wäre. Und deshalb waren Fabien Lenormand und Birgitta Matsson gestorben.
Es mußte Fabien gelungen sein, sich irgendwie mit Morel zu verabreden. Martine fragte sich, ob der Mord geplant war oder ob Morel in blinder Panik zugeschlagen hatte, als Fabien das Bild aus der schwedischen Zeitung herauszog und erregt erzählte, daß Stéphane Berger eigentlich Istvan Juhász hieß. Den Mord an Birgitta Matsson dagegen hatte er planen können. Die Schwedin mußte von ihrem Verdacht erzählt haben, als sie mit Morel Kontakt aufnahm, und dann hatte sie keine Chance mehr. Aber wie war sie an ihn herangekommen? Männer wie Morel waren von einer Mauer von Sekretärinnen umgeben, und nach dem Mord hätte sich eine von ihnen daran erinnern müssen, daß sich eine Schwedin an ihn gewandt hatte.
Sie spürte, daß Berger sie beobachtete.
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