Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
Vom Netzwerk:
dunkel von altem Schmerz.
    – Ja, sagte sie, meine Mutter wußte nicht, wie sie sich und ihre Kinder versorgen sollte, als Papa starb. Sie hatte eine Art psychischen Zusammenbruch und war eine Weile im Krankenhaus. Es endete damit, daß ich und meine kleine Schwester im Kinderheim untergebracht wurden, Mama durfte nur unseren kleinen Bruder Tonio zu Hause behalten. Sie besuchte uns manchmal, es waren ein paar Kilometer, und so fuhr sie mit Tonio im Kindersitz auf dem Gepäckträger mit dem Rad. An einem Freitag abend wollte sie uns besuchen kommen. Sie hatte Geld gespart und ein paar leckere Sachen gekauft, wir wollten ein kleines Fest feiern. Aber sie ist nie aufgetaucht. Später fand man sie an der Straße. Sie war angefahren worden und mit dem Kopf aufgeschlagen, wahrscheinlich starb sie sofort. Tonio lebte, als man ihn fand. Er war erst zwei und schaffte es nicht allein aus dem Kindersitz, er rief nach seiner Mama. Man glaubte, daß er dort ein paar Stunden mit unserer toten Mutter festgesessen hatte. Dann starb er im Krankenhaus.
    Martine und Julie sahen einander an. Martine schluckte.
    – Hat man denjenigen, der Ihre Mutter angefahren hat, je gefunden? fragte sie.
    Nunzia Paolini zuckte die Achseln.
    – Ich weiß nicht, wie genau sie gesucht haben, nein, sie haben niemanden gefunden.
    Sie nahm die Hände aus den Taschen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    – Ich und meine Erinnerungen, sagte sie, wie um Entschuldigung bittend, die überwältigen mich immer, wenn ich hierherkomme, und trotzdem kann ich es nicht lassen. Aber was Sie jetzt interessiert, ist ja der Tod des armen Fabien. Wollten Sie noch weitere Fragen stellen?
    Martine schob mit Mühe das sich aufdrängende Bild eines weinenden kleinen Jungen, angeschnallt auf dem Fahrrad neben seiner toten Mutter, beiseite.
    – Wir gehen davon aus, daß Fabien Lenormand eines gewaltsamen Todes starb, sagte sie. Ist während seiner Zeit hier etwas passiert, was im Zusammenhang damit stehen könnte? Hat er mit jemandem gestritten, hat er jemanden irritiert, wurde er von jemandem bedroht?
    Nunzia Paolini wandte sich ihr mit glänzenden Augen zu.
    – Stellen Sie sich vor, wenn er etwas gefunden hätte, das die Wahrheit über das Unglück beweist, sagte sie.
    – Die Wahrheit über das Unglück, sagte Martine erstaunt, ist daran etwas unklar? Sie sagten, es habe einen Prozeß gegeben?
    – Ja, sagte Nunzia Paolini, 1959 kam es zu einem Prozeß, damals war ich elf. Ich nahm den Bus nach Villette, um an den Prozeßtagen dabeizusein. Ich verstand natürlich nicht sehr viel, aber ich sah die Angeklagten an und dachte, daß sie verantwortlich waren für Papas Tod und all das Schreckliche, das danach passierte. Der Betriebsleiter, Monsieur Dewez, war in den Vierzigern, und wenigstens er schien ein schlechtes Gewissen zu haben wegen der Versäumnisse und der Pfuschereien, die 162 Männer das Leben gekostet hatten. Der Grubenvogt, Monsieur Bogaert, hatte wohl seinBestes getan, aber eine Verantwortung gehabt, die seine Kompetenz überstieg, das habe sogar ich kapiert, so jung, wie ich war. Aber die jungen Bergingenieure, Dekeersmaeker, Morel und Briot, die sahen die ganze Zeit nur arrogant und unberührt aus.
    – Wie ging es aus? fragte Julie.
    – Oh, sagte Nunzia Paolini, alle wurden freigesprochen, der Betriebsleiter und die Ingenieure und die Vorarbeiter. Sie hatten eine Reihe von Fehlern gemacht und manches falsch eingeschätzt, aber das Gericht war nicht der Meinung, daß die Fehler an sich schwer genug waren, um sie zu verurteilen. Aber es gab Dinge, die nicht herauskamen. Es war eine Explosion von Grubengas, die den ganzen Ablauf auslöste, und sie sagten vor Gericht, daß sie nicht gewarnt worden seien, daß es in den Örtern Gas gab. Aber ich weiß, daß das nicht wahr war. Ich habe gehört, wie mein Vater und die anderen am Abend direkt vor dem Unglück darüber geredet haben. Mama hatte es auch gehört, wir haben danach darüber gesprochen. Die Männer wußten, daß es Gas gab, ihre Lampen hatten geflackert und waren sogar mehrmals ausgegangen, und sie hatten Angst. Aber keinen interessierte es, wenn sie davon sprachen. Deshalb sagten sie, daß sie etwas schreiben würden, und ich weiß, daß sie es getan haben. Aber dieses Papier kam nach dem Unglück nie zum Vorschein. Stellen Sie sich vor, wenn Fabien es gefunden hat!
    – Aber gibt es etwas, das darauf hindeutet? fragte Martine überrascht. Jetzt opferte Nunzia Paolini die Vernunft ihrem

Weitere Kostenlose Bücher