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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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geraden graukarierten Rock, der gleich unterhalb der Knie endete, einen grauen Jumper mit rundem Ausschnitt und vernünftige Schuhe.
    – Wir haben ein kleines Büro da auf dem Gelände, sagte sie, ich dachte, wir können dort sitzen und reden, und ich erkläre Ihnen, womit sich Fabien beschäftigt hat. Ist er wirklich tot? Und Sie glauben, daß er ermordet wurde? Das kann nicht wahr sein!
    Sie öffnete eine schmale Tür, die in das große Gittertor eingelassen war, und führte sie auf das alte Grubengelände. Rußige Ziegelgebäude türmten sich über einem unkrautbewachsenen Innenhof auf, und die beiden rostigen Metalltürme der Förderanlagen zeichneten sich vor dem Himmel ab. Der ganze Ort mit seinen zugewachsenen Eisenbahngleisen und Stapeln von verrottendem Holz atmete Verfall.
    – Es sieht hier entsetzlich aus, nicht wahr, sagte Nunzia Paolini, aber wir haben große Pläne. Es soll ein Museum und eine Gedenkstätte werden, wir hoffen auf Fördergelder aus Brüssel, um es instand zu setzen, es ist ein Teil von Villettes Einsatz für die Kulturhauptstadt.
    Sie schloß die Tür zu einem Gebäude auf, das, wie Martine annahm, das alte Grubenbüro war, und führte sie ineinen ziemlich großen Büroraum, der mit zwei Schreibtischen, einer Handvoll Stühlen unterschiedlichen Alters, einem Archivschrank, einem durchgesessenen Sofa und einem Couchtisch möbliert war. Zwischen den Fenstern stand ein altertümlicher elektrischer Heizkörper.
    – Müssen wir vielleicht die Heizung anstellen, sagte Nunzia Paolini, nein, ich glaube nicht. Sie können sich ja umsehen, und ich mache etwas Wasser für Kaffee heiß, leider habe ich nur Instantkaffee hier.
    Es gab nicht viel zu sehen. An einer der schmutziggelben Wände hing ein Plakat, das eine kräftig vergrößerte Zeitungsseite zu sein schien, mit der Schlagzeile: »Die 162 Toten der Katastrophe in Foch-les-Eaux«. Die 162 Gesichter auf dem Plakat waren ursprünglich briefmarkenklein gewesen, aber als sie vergrößert worden waren, waren die Rasterpunkte des Zeitungsdrucks so groß geworden, daß man kaum noch etwas erkennen konnte. Aber Namen und Geburtsdaten waren zu lesen, und Martine studierte sie fasziniert. Die meisten Namen schienen italienisch und die übrigen vor allem französisch und flämisch zu sein. Aber es fanden sich dort auch Namen, die auf einen entfernteren Ort hindeuteten.
    – Sieh mal hier, sagte Martine zu Julie, es scheinen Menschen aus ganz Europa gekommen zu sein, um in dieser Grube zu arbeiten: Christopoulos, Juhász, Németh, Nowak …
    – Genauso war es, sagte Nunzia Paolini, die mit drei dampfenden Bechern in den Händen in den Raum kam, Ende der vierziger Jahre kamen Menschen aus ganz Europa hierher. Der Krieg war zu Ende, der Kontinent lag in Ruinen, alles sollte aufgebaut werden, und alle Länder riefen nach Kohle für die Industrie. Zuerst schickten sie deutscheKriegsgefangene in die Gruben hier, und als die zurück nach Deutschland geschickt wurden, versuchte die Regierung, belgische Arbeiter zu zwingen, Grubenjobs anzunehmen. Aber das ging nicht, obwohl sie mit Bußgeldern und Gefängnis drohten. Da schloß die belgische Regierung ein Abkommen mit Italien, daß sie Arbeiter hierherschicken sollten, gegen billige Kohle. So kam meine Familie her und alle anderen Italiener in Villette. Außerdem vereinbarte Belgien mit den Siegermächten, daß sie unter den Flüchtlingen und Vertriebenen, die nach dem Krieg in Europa herumzogen – es waren Massen von Menschen geflohen oder ausgewiesen worden –, zwanzigtausend Arbeiter für die belgischen Gruben auftreiben würden. Deshalb sehen Sie ungarische, polnische und griechische Namen da auf dem Plakat.
    Sie stellte die Tassen auf den Couchtisch und lächelte ihnen zu.
    – Jetzt rede ich wohl zuviel, wie gewöhnlich, sagte sie, meine Schwester sagt, daß ich immer zu gesprächig werde, wenn ich auf dieses Thema komme. Ich könnte ein Buch über die belgischen Kohlengruben nach dem Krieg und die Katastrophe von 1956 schreiben, aber keiner würde es lesen, es würde nur langweilig werden. Deshalb haben wir Fabien angestellt …
    Martine und Julie ließen sich auf dem Sofa nieder, und Nunzia Paolini setzte sich auf einen Stuhl.
    – Erzählen Sie, sagte Martine, woran arbeiten Sie hier, warum haben Sie Fabien Lenormand angestellt, wie haben Sie ihn gefunden, und was war seine Aufgabe?
    Nunzia Paolini erklärte, sie sei Sekretärin eines Vereins für die Angehörigen der Opfer der Grubenkatastrophe

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