Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Engagement, dachte sie.
– Nein, sagte diese jetzt stiller, das gibt es wohl nicht. Aber etwas hatte er gefunden. Er fuhr am Montag nach Brüssel, um an einem Seminar teilzunehmen. Es hattenichts mit seinem Job hier zu tun, aber das war mir egal, er durfte seine Arbeit organisieren, wie er wollte, solange er bis Dezember ein Manuskript fertig hatte. Außerdem wollte er in die Bibliothèque Royale in Brüssel gehen und Zeitungen aus dieser Zeit durchsehen, das, was ich im Archiv habe, ist nicht komplett. Und letzten Dienstag vormittag rief er von Brüssel aus an und klang aufgeregt. Er deutete an, daß er etwas Wichtiges gefunden hatte, aber er wollte nicht sagen, was es war.
Nunzia Paolini runzelte die Stirn.
– Aber er fragte nach Pisti, sagte sie, er bat mich, seinen Namen zu buchstabieren, damit er sicher war, daß es der richtige war.
Als Thomas gesehen hatte, wie Birgittas Taxi durch die Allee hinunterbog, kehrte er zu seiner Korrektur zurück, während Sophie ihre Reisetasche ins Obergeschoß trug, um auszupacken. Nach einer halben Stunde hörte er die Stimme seiner Großmutter aus der Bibliothek und ging hin, um nach ihr zu sehen. Greta Lidelius saß aufrecht im Bett, hatte aber denselben abwesenden Blick wie am Tag zuvor, als Birgitta dagewesen war.
– Haben wir Besuch, fragte sie, ich meine, ich hätte aus der Küche Stimmen gehört?
Sie klang ängstlich.
– Das war nur Birgitta Matsson, sagte Thomas beruhigend, sie wollte nach Brüssel und vor der Reise reinschauen und sehen, wie es dir geht.
Er fragte sich, ob er etwas von dem Gemälde erwähnen sollte, nach dem Birgitta gefragt hatte, entschied aber, daß es Greta, die erneut ziemlich verwirrt wirkte, absolut nicht so klar im Kopf wie heute morgen, nur beunruhigen würde.
– Aha, sagte die Bischöfinwitwe bekümmert, ich dachte, vielleicht ist Istvan vorbeigekommen, jetzt, wo Sophie hier ist. Er war immer so hingerissen von ihr. Sag Sophie, daß sie eine ganze Kanne Himbeersaft mischen soll, wenn sie ihn zum Kaffee einladen will!
Sie sank zurück auf die Kissen und schloß die Augen.
Es war viele Jahre her, daß Himbeersaft Sophie Linds Lieblingsgetränk gewesen war. Thomas ging ins Obergeschoß hinauf und fand seine Schwester damit beschäftigt, saubere Bettwäsche in das alte Doppelbett der Großeltern zu legen.
– Ich dachte, ich könnte dieses Zimmer nehmen, sagte sie, Großmutter schläft ja doch nicht hier. Ist sie schon aufgewacht?
– Ja, sagte Thomas, und wieder eingeschlafen. Sie hat gesagt, du sollst Himbeersaft hinstellen, wenn du Istvan zum Kaffee einladen willst.
Sophie zog die Augenbrauen hoch.
– Oh, Istvan, sagte sie amüsiert, den hatte ich ganz vergessen. Dabei war ich ein bißchen verliebt in ihn, als ich zehn, elf war. Aber warum redet Großmutter jetzt von ihm? Das ist doch komisch!
Vielleicht nicht sehr komisch, dachte Thomas, nicht, wenn Istvan jemand war, der in Sophies Kindheit in den fünfziger Jahren im Pfarrhof verkehrt hatte. Er wußte, daß die Vergangenheit für alte Menschen wie seine Großmutter oft deutlicher und lebendiger war als das Jetzt. Aber er wurde trotzdem neugierig. Der Name »Istvan« klang für das Granåker der fünfziger Jahre sehr exotisch.
– Jetzt brauche ich noch Kaffee, sagte Sophie, als sie mit dem Bett fertig war, komm mit in den Saal und leiste mir Gesellschaft, Thomas. Deine alte Korrektur kannst du dir heute nachmittag angucken.
– Okay, sagte Thomas, unter der Bedingung, daß du erzählst, wer Istvan war.
Sie ließen sich im Saal auf dem graulackierten gustavianischen Sofa nieder, und Sophie faltete mit in die Ferne gerichtetem Blick die Hände hinter dem Nacken. Das Licht von den beiden Fenstern an der Längsseite fiel mild auf ihre dunkelgoldenen Haare und das reine Profil, das mit dem von Simone Signoret und Ingrid Bergman verglichen worden war.
– Istvan, ja, sagte sie, das ist eine Geschichte, die in dem wichtigen Jahr 1956 anfängt. Dem Jahr, in dem du geboren wurdest, Thomas, mein Kleiner, aber auch dem Jahr von Chruschtschows Entstaliniesierungsrede, der Suez-Krise und dem Ungarn-Aufstand. Na ja, in diesem bemerkenswerten Jahr wurde entschieden, daß ich allein mit Großmutter und Großvater in Granåker Weihnachten feiern sollte. Du warst zu klein, um zu reisen, und da mußte ja Mama mit dir zu Hause bleiben. Papa wollte nicht ohne sie nach Schweden fahren, und da mußten auch Stina und Oscar in Belgien bleiben. Aber die große Schwester Sophie wurde für
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