Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
reif und verständig genug gehalten, die Reise allein zu schaffen.
– Aber du warst doch erst zehn! sagte Thomas.
– Man sah damals solche Dinge etwas anders, sagte Sophie. Sie setzten mich im Gare Centrale in den Zug und redeten mit dem Schaffner, der versprach, nach mir zu sehen und dafür zu sorgen, daß ich in Hamburg in den richtigen Zug kam. Da saß ich in meinem weißen Teddymantel mit einem kleinen roten Lackkoffer und fühlte mich sehr erwachsen und kultiviert. Das Gepäck hatte man natürlich aufgegeben. Ich habe es geschafft, sowohl in Hamburg als auch in Kopenhagen im richtigen Zug zu landen, und in Stockholm holte mich Großvater im Centralen ab.
Es war ja erst ein paar Monate her, daß der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen worden war. Ich hatte viel darüber in den Zeitungen gesehen, Bilder von sowjetischen Panzern und zerschossenen Häusern, und das machte Eindruck auf mich. Ich dachte an die Kinder in Ungarn und hatte Angst, daß auch in Belgien Krieg ausbrechen würde. Deshalb fand ich es äußerst spannend, als sich herausstellte, daß Hanaberget voller ungarischer Flüchtlinge war.
– Ungarische Flüchtlinge in Hanaberget? wiederholte Thomas verblüfft.
– Mm, sagte Sophie, sie brauchten Leute, die in der Grube arbeiten konnten, das war so in dieser Zeit. Denk nach, Thomas, du bist ja in Hanaberget zur Schule gegangen! Deine Klassenkameraden hießen nicht nur Andersson und Pettersson, stimmt’s?
– Nein, sagte Thomas zögernd, nein, du hast recht. Da waren Peter Kainz und Ilona Nagy und andere …
– Genau, sagte Sophie, zuerst waren es Sudetendeutsche, glaube ich, und 1956 gabelte die Grubengesellschaft eine Gruppe ungarischer Flüchtlinge auf. Das war damals ein Riesenwirbel in Hanaberget, und Großmutter war in ihrem Element, sie fand es spannend, als es etwas Leben und Bewegung und internationale Atmosphäre gab. Sie führte Studienkreise in Schwedisch für ungarische Einwanderer, sie trafen sich im Folkets Hus in Hanaberget. Ich durfte ein paarmal mit ihr hinfahren, während Großvater über seinen Schriftrollen vom Toten Meer brütete. Und da hatte sie Istvan kennengelernt. Wie er mit Nachnamen hieß, weiß ich nicht mehr, so ein komplizierter ungarischer Nachname mit jeder Menge Konsonanten. Er war nach Hanaberget gekommen, um in der Grube zu arbeiten, wie alle anderen, die dorthin gelockt worden waren. Aber es stellte sich heraus,daß er zu jung war, um direkt anzufangen, erst im Jahr darauf war er alt genug. Und da organisierte Großmutter für ihn vorübergehend einen Job als Gehilfe des Kirchendieners in Granåker, und er mußte am Pfarrhof Schnee schaufeln und Holz reintragen und so weiter. Großmutter lud ihn in der Küche zum Kaffee ein, und wir saßen da und redeten und hatten viel Spaß. Es war ein unglaublich charmanter Junge, alle Menschen weiblichen Geschlechts fielen wie die Kegel, inklusive Bischöfin und Klein Sophie.
– Du meinst doch nicht, daß zwischen ihm und Großmutter etwas war? sagte Thomas, ein wenig schockiert.
– Nein, natürlich nicht, sagte Sophie, aber es war schon ein kleiner, kleiner Flirt. Großmutter hatte immer eine Schwäche für fesche Männer, das habe ich viel später begriffen. Damals fand ich natürlich, daß sie uralt war, aber sie war erst etwas über fünfzig und hübsch und adrett. Und sie langweilte sich tödlich in Granåker, bis sie mit ihren Studienkreisen anfing. Großvater hatte sich wohl in seiner Unschuld eingebildet, es wäre schön für sie, in einer kleinen Provinzgemeinde zur Ruhe zu kommen und in Vollzeit am Grab des kleinen Johan herumzupusseln. Zuerst widmete sie sich der Einrichtung des Pfarrhofs, und das machte sie phantastisch, mischte Gustavianisches und Bauernmöbel mit Avantgarde aus den zwanziger Jahren und Swedish Modern und kriegte es hin, daß es selbstverständlich aussah. Hemmets Veckotidning machte eine Reportage, erinnere ich mich, »Bischöfin Greta Lidelius hat mit ihrem unkonventionellen und sicheren Geschmack den alten Pfarrhof zu einem charmanten Heim gemacht …« Aber wieviel Spaß macht es, Granåkers Karin Larsson zu sein? Also saß sie in der Küche mit mir als Anstandswauwau und unterhielt sich mit Istvan, anstatt Würste zu stopfen und Schmalzkringelzu backen und was sonst noch von Pfarrersfrauen vor Weihnachten erwartet wird, ich erinnere mich, daß sie einen Haufen solcher ekligen Wurstdärme auf der Arbeitsplatte liegen hatte. Istvan sprach Französisch, verstehst du, und Großmutter
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