Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hat es immer geliebt, Französisch zu sprechen und sich nach Paris zurückzuträumen.
– Ein Grubenarbeiter, der Französisch sprach?
– Ja, sagte Sophie, wir haben uns ein bißchen darüber gewundert, Großmutter und ich. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß Istvan vermutlich aus einer Gutsbesitzerfamilie kam, die alles verloren hatte, als die Stalinisten in Ungarn die Macht übernahmen. Aber wir waren zu feinfühlig, um zu fragen. Ja, das war Weihnachten 1956. Im Sommer 1957 fuhr ich wieder nach Granåker, und da half Istvan immer noch im Pfarrhof. Er hatte einen Job in der Grube bekommen, wollte aber wohl zusätzlich etwas Geld verdienen, und Großmutter half ihm weiter bei seinem Schwedisch. Und das tat ich auch. Istvan und ich saßen im Garten und lasen Illustrierte Klassiker, erinnerst du dich an die? »Krieg der Welten« und »Der Graf von Monte Christo« und »Macbeth« und alles mögliche, sehr gut, um den schwedischen Wortvorrat aufzubessern. Ich erinnere mich besonders an einen mit dem Titel »Unter zwei Fahnen«, eine ergreifende Geschichte über einen englischen Edelmann, der die Schuld für etwas Anrüchiges, das sein Bruder getan hat, auf sich nimmt, die Identität wechselt und in die Fremdenlegion eintritt, um als einfacher Soldat in Nordafrika zu leben. Istvan war fasziniert davon. Romantisch, wie ich in der Zeit war, dachte ich, das liege daran, daß er selbst ein Edelmann war, der vom Familiengut vertrieben worden war und als einfacher Grubenarbeiter im Exil leben mußte, und ich sah mich selbst in dem goldgelockten kleinen Mädchen, das den Helden in seiner schwersten Stunde unterstützt.
Sophie verstummte.
– Was ist denn aus Istvan geworden? fragte Thomas.
– Weiß ich nicht, sagte Sophie, ich habe ihn nach diesem Sommer nie wieder gesehen. Wir müssen Großmutter fragen, wenn sie etwas munterer wirkt.
– Schrecklich, nicht, sagte Julie, als sie unterwegs zurück in den Justizpalast waren. Martine brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Sobald sie die Grube verlassen hatten, waren ihre Gedanken zu der Landstraße mit dem umgestürzten Fahrrad, der toten Frau und dem weinenden, verletzten Kind zurückgekehrt.
Ihre Blicke begegneten sich voller Einverständnis.
– Ja, sagte Martine, und irgendwie will ich mehr wissen. Aber ich kann kein Motiv sehen, die kostbare Zeit der Polizei darauf zu verwenden, in einem vierzig Jahre alten Verkehrsunfall zu wühlen.
Julie wußte eine Alternative.
– Ich habe eine Idee, sagte sie, ich würde einen Privatdetektiv darauf ansetzen, wenn es für dich okay ist, natürlich.
Martine starrte ihre Rechtspflegerin an. Sie erinnerte sich, wie ihre Eltern mit Papier und Stift am Küchentisch gesessen und flüsternd darüber konferiert hatten, wie sie es finanziell schaffen sollten, einen Privatdetektiv zu engagieren, um die Versorgung und die Ehre der Familie zu retten.
– Entschuldige, sagte sie, kannst du dir das leisten? Und wenn ja, warum solltest du das tun?
Julie schüttelte den Kopf.
– Es würde nichts kosten, sagte sie, er würde es gratis machen. Ich denke an Dominic. Er braucht etwas zu tun. Seine Ärztin will ihn noch nicht arbeiten lassen, den ganzen Tag auf einem Bürostuhl zu sitzen würde seine Rehabilitierungbehindern, sagt sie. Aber Dominic geht fast die Wände hoch.
Dominic di Bartolo, Topbeamter am Justizpalast und selbst Sohn eines eingewanderten italienischen Grubenarbeiters, war nach einem Verkehrsunfall im April Rekonvaleszent. Julie hatte insofern recht, als er, wenn überhaupt jemand, ideale Voraussetzungen hatte, um private Ermittlungen in bezug auf einen Verkehrsunfall im Revier zu betreiben.
– Sag ja, sagte Julie überredend, er kann alte Zeitungen lesen und sich die polizeiliche Untersuchung von damals ansehen und Leute befragen. Das wäre so gut für ihn!
– Aber wir wissen nicht, wie die Mutter hieß, sagte Martine.
– Doch, sagte Julie, ich bin zurückgegangen und habe Nunzia Paolini gefragt, als du schon im Auto gesessen hast. Sie hieß Giovanna. Giovanna Paolini, dreiunddreißig Jahre, und ihr Sohn Antonio, zwei Jahre, kamen am Freitag, den 11. Oktober 1957, um. Willst du wissen, was passiert ist? Ich rede heute abend mit Dominic.
– Professor Verhoeven war hier und hat einen Bericht für Sie hinterlassen, sagte der Wachmann am Empfang, als sie zum Justizpalast zurückkamen, und sie bat mich, Ihnen zu sagen, daß sie bis ungefähr ein Uhr in der Blinden Gerechtigkeit ist, falls Sie mit ihr reden
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