Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
von 1956. Anfang des Jahres hatte die Kommune einen prinzipiellenBeschluß gefaßt, aus dem alten Grubengelände ein Museum zu machen, und Geld für eine vorbereitende Studie bewilligt. Da hatte sich Nunzia Paolini von ihrem Lehrerinnenjob beurlauben lassen, um in Vollzeit an dem Projekt zu arbeiten. Es war ihre Idee, ein Buch über die Grubenkatastrophe herauszugeben, um das Interesse für die Museumspläne zu vergrößern.
– Kein dickes Buch, sagte sie, ich dachte mir eine Schrift von höchstens hundert Seiten, etwas mit vielen Bildern, Interviews mit Leuten, die 1956 dabei waren, etwas Starkes und Engagierendes. Und deshalb wollte ich einen professionellen Journalisten dafür anstellen.
Sie hatte im Juli Anzeigen geschaltet, und vier Bewerber hatten sich gemeldet. Sie hatte sich schnell für Fabien Lenormand entschieden, vor allem aufgrund der Reportage über die Stillegung der Fahrradfabrik Vélo Éclair, die er mit seinen Arbeitsproben mitgeschickt hatte.
– Man merkte, daß er sich engagierte, sagte sie, der Artikel kochte zwischen den Zeilen vor Wut, und das war genau das, was ich gesucht habe. Ich wollte jemanden haben, der sachlich schreiben kann, aber so, daß der Text vor unterdrückter Wut glüht. Wut ist gut. Ich mag Wut.
Nunzia Paolinis Stimme hatte einen tieferen Klang bekommen. Martine sah sie überrascht an. Die Frau saß vornübergebeugt auf der Kante ihres Stuhls, und ihre dunklen Augen loderten. Es war, als sei die Lehrerin mit Madonnenfrisur und dem vernünftigen grauen Jumper in den Engel mit dem bloßen, hauenden Schwert verwandelt worden. Martine revidierte ihren ersten Eindruck von Fabien Lenormands Arbeitgeberin. Diese Frau war ein harter Bursche.
– Hatten Sie selbst Angehörige, die bei der Grubenkatastrophe umkamen? fragte sie vorsichtig.
Nunzia Paolini nickte.
– Mein Vater, sagte sie. Sie stand auf, ging zur Wand und zeigte auf eines der unscharfen Porträts auf dem Plakat:
– Angelo Paolini, geboren am 12. August 1923, Vater von drei Kindern, überlebte den Krieg, aber nicht den Frieden. Fand nie Gerechtigkeit. Keiner wurde vor Gericht für die Katastrophe verurteilt. Das Feuer in der Grube wütete mehrere Tage lang, und für einige von uns ist es noch nicht erloschen.
– Wie alt waren Sie, als es passierte? fragte Julie.
– Acht, sagte Nunzia Paolini kurz.
Martine spürte einen Stich im Herzen, eine sekundenschnelle Erinnerung an den Schrecken, den sie damals empfunden hatte, als sie in ihrem rosa Morgenmantel am Treppengeländer stand und Gustave mit den fremden Männern streiten sah. Noch eine Frau, die ihr Leben der Aufgabe geweiht hatte, Gerechtigkeit für ihren Vater zu erlangen, dachte sie. Sie sah Nunzia Paolini mit einem plötzlichen Gefühl der Zusammengehörigkeit an.
– Wenn wir nun auf Fabien Lenormand zurückkommen, sagte sie. Er bekam also den Job hier. Wann hat er angefangen?
– Am ersten August, sagte Nunzia Paolini, das war ein Montag, es paßte also gut. Er bekam den zweiten Schreibtisch hier drinnen, und er hatte einen eigenen Laptop bei sich, auf dem er schrieb.
– Und was machte er an den ersten Tagen?
Nunzia Paolini lächelte.
– An den ersten Tagen mußte sich der arme Junge wohl vor allem meine Predigten anhören. Er wußte ja anfangs nichts von dem Unglück, und er mußte ein Bild davon bekommen, was passiert war, um mit seiner Arbeit beginnenzu können. Ich zeigte ihm unser Archiv hier und wie es aufgebaut ist, und er verbrachte ein paar Wochen damit, sich einzulesen.
Sie machte eine Geste zu dem grauen Archivschrank.
– Wir haben Zeitungsausschnitte von 1956, wir haben Kopien der Gerichtsprotokolle vom Prozeß 1959, und vor fünf Jahren habe ich Leute gebeten, ihre Erinnerungen an diese Tage niederzuschreiben. Es sind ziemlich viele Erzählungen hereingekommen, und die haben wir auch im Archiv, manche handgeschrieben, manche maschinengeschrieben. Außerdem gibt es noch anderes Material, das ich im Laufe der Jahre gesammelt habe. Ja, Fabien las sich zunächst einmal ein, wie ich gesagt habe. Dann machte er eigene Interviews mit einigen von denen, die Erzählungen abgeliefert hatten, drei oder vier hat er wohl geschafft. Er war bei der Gazette de Villette, um in deren Bildarchiv nach Fotos zu suchen, und er fing an, darüber nachzudenken, wie er das Buch anlegen sollte. Aber noch war es ganz formlos. Etwas, was starken Eindruck auf ihn machte und worüber er schreiben wollte, war, daß viele von denen, die starben, so jung waren,
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