Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
noch Teenager. Die beiden Jüngsten waren erst siebzehn, können Sie sich das vorstellen!
Sie ging wieder zu dem Plakat an der Wand. Martine und Julie folgten ihr mit dem Blick. Sie zeigte auf zwei der unscharfen Bilder.
– Roberto Sazzo, geboren am 3. Mai 1939, und Pisti Juhász, geboren am 5. Januar 1939. Fabien wollte ihre Geschichte aufschreiben. Sie kamen als Kinder aus vom Krieg verheerten Ländern hierher, und sie waren immer noch fast Kinder, als sie in der Grube, die ihnen das Leben nehmen sollte, anfingen zu arbeiten.
Martine ging zur Wand, trat aber wieder zurück, weil dasBild auf dem Plakat weniger undeutlich war, wenn sie ein paar Meter entfernt stand. Sie sah zwei sonntäglich gekleidete junge Männer mit pomadisierten und zurückgekämmten Haaren, der eine mit Schlips, der andere mit offenem weißem Hemd. Aber die Gesichtszüge waren immer noch schwer zu unterscheiden.
– Ich erinnere mich an Pisti, sagte Nunzia Paolini, wir waren Nachbarn in derselben Baracke. An dem Morgen, als es passierte, war ich auf dem Hof und versuchte, mit einem Stück einer kaputten Wäscheleine Seil zu springen. Da kam Pisti herausgestürzt, als hätte er Feuer im Hintern, er hatte wohl verschlafen. Er sprang auf sein altes Fahrrad und trampelte wie ein Wirbelwind runter ins Dorf. Nach einer Weile kam meine kleine Schwester raus, und wir beschlossen, daß wir lieber Himmel und Hölle spielen wollten. Ich hatte gerade mit einem Stöckchen das Hüpffeld aufgezeichnet, als wir die Sirenen hörten, die brüllten und brüllten und brüllten. Ich denke oft an Pisti, der überlebt hätte, hätte er etwas länger verschlafen oder wäre er etwas langsamer geradelt. Übrigens, wollen Sie sehen, wo wir gewohnt haben? Die Baracken stehen noch, ich habe gedacht, man sollte eine von ihnen als Teil des Museums instand setzen, so daß man sehen kann, wie die eingewanderten Grubenarbeiter wohnten. Ich habe Fabien dorthin mitgenommen und ihm Pistis Zimmer gezeigt. Er war ziemlich schockiert darüber, wie elend wir gelebt hatten, und am Tag darauf fuhr er noch einmal hin und fotografierte. Das könnte für Sie vielleicht interessant sein? Wenn Sie wissen wollen, womit sich Fabien beschäftigt hat?
– Ja, warum nicht, sagte Martine. Nunzia Paolinis Intensität war ansteckend, und auch wenn die Ereignisse von 1956 kaum etwas mit Fabien Lenormands Tod zu tun habenkonnten, konnte es nicht schaden, mehr darüber zu erfahren, woran er gearbeitet hatte.
Sie folgten Nunzia Paolinis kleinem roten Renault durch das Dorf und vorbei an einer grauen Steinkirche. Direkt nach der Kirche bog sie nach rechts ab. Die Abzweigung ging steil aufwärts, und hohes Gras von dem überwachsenen Mittelstreifen strich am Chassis des Autos entlang, als sie die Anhöhe hinaufholperten. Wo die Straße endete, duckte sich eine Ansammlung von Gebäuden – eine lange, niedrige Baracke aus Holz mit Blechdach und im Winkel dazu drei gewölbte Baracken aus Wellblech mit Giebeln aus Ziegeln.
Martine stieg aus dem Auto und sah sich um. Von der Anhöhe aus sah sie goldgelbe Waldpartien, frisch abgeerntete Felder und den Dunst über dem Flußtal ein paar Kilometer entfernt. Das Dorf da unten sah schmuck und saubergeschrubbt aus, wie etwas, das ein Kind aus seiner Spielzeugkiste zusammengesucht hat. Aber um die rostigen Baracken wuchsen nur Soden aus hartem Gras und üppige Büschel von Nesseln.
– Das sieht ja aus wie ein Gefangenenlager, sagte Julie, als Nunzia Paolini zu ihnen kam, meinen Sie, daß hier Grubenarbeiterfamilien wohnten? Mit kleinen Kindern?
– Es war ein Gefangenenlager, sagte Nunzia Paolini finster, es war ursprünglich ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Aber sobald die nach Hause geschickt worden waren, wurden daraus Wohnungen für die Grubenarbeiter, die aus Italien hierhergelockt worden waren. Ihnen waren gute Wohnungen versprochen worden, aber sie bekamen Kriegsgefangenenbaracken. Erst nach dem Unglück 1956 wurden sie geräumt, da entstand eine Debatte über die Verhältnisse der Grubenarbeiter, und da bekamen die meisten ordentliche Wohnungen.
Sie stand da, die Hände versenkt in den Taschen ihres blauen Popelinemantels und die dunklen Augenbrauen zusammengezogen.
– Aber ich selbst habe doch vor allem schöne Erinnerungen an diesen Ort, sagte sie, hier wohnte ich mit meiner Mutter und meinem Vater und meinen kleineren Geschwistern, und ich habe mich oft hierhergesehnt … danach.
– Danach? fragte Julie.
Nunzia Paolinis Augen waren
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