Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Lemaire war Vorsitzender des eigens eingesetzten Parlamentausschusses, vor dem Martine aussagen sollte, und ihr gefiel der Gedanke daran, von ihrem früheren Liebhaber befragt zu werden, überhaupt nicht. Jean-Louis hatte mehrfach versucht, sich mit ihr zu verabreden, um die Befragung vorzubereiten, etwas, was man anscheinend mit allen tat, die aussagen sollten, aber sie hatte jedesmal einen Vorwand gefunden, um das Treffen abzusagen.
Jetzt aber konnte sie sich nicht mehr drücken. Zwei Stunden bevor die Ausschußanhörung beginnen sollte, trat sie durch den Seiteneingang des Parlaments zur Rue de Louvain in Brüssel ein und wurde von einem ehrerbietigen Kanzleidiener zu Jean-Louis Lemaires Dienstzimmer geführt.
Er saß hinter seinem Schreibtisch und arbeitete, sah aber auf, als sie durch die Tür eintrat, stand auf und kam mit ausgestreckten Händen lächelnd auf sie zu.
– Martine! sagte er erfreut.
Sie streckte ihm resolut die rechte Hand entgegen, auf eine Weise, die deutlich machte, daß sie Distanz halten und Wangenküsse vermeiden wollte. Statt dessen nahm er ihre Hand in einem warmen Griff zwischen seine beiden und betrachtete sie mit schräggelegtem Kopf und einem Anflug von Ironie in den braunen Augen.
– Ich sollte vielleicht lieber »Frau Richterin« sagen, sagte er, aber setz dich doch, Martine, wir haben viel zu besprechen.
Er machte eine Geste zu zwei samtbezogenen Sesseln, die auf je einer Seite eines niedrigen Tisches standen. Martine sank vorsichtig in einen und sah sich im Raum um. Sie erkannte eines der Bilder an der Wand wieder, ein recht unbeholfen ausgeführtes Gemälde des Stahlwerks in Seraing, das Jean-Louis von einem pensionierten Eisenhüttenwerkarbeiter und Hobbymaler geschenkt bekommen hatte. Es hatte in seiner Kanzlei in Liège an der Wand gehangen, über dem Sofa, auf dem sie sich während der Mittagspause zu lieben pflegten, und sie spürte mit beschämtem Erstaunen, wie sich ihr Körper noch einmal mit Wärme und prickelnder Erwartung füllte, als sie die rotgelbe Schmelze betrachtete, die in der linken Ecke des Bildes hervorquoll.
Sie hatte Jean-Louis kein einziges Mal unter vier Augen getroffen, seit sie vor mehr als zehn Jahren mit ihm gebrochen hatte, und es gefiel ihr nicht zu spüren, wie jetzt die alte Spannung die Luft zwischen ihnen mit Elektrizität füllte.
Sie schielte zu ihm und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie grau er an den Schläfen geworden war und wie sich sein Bauch über dem Gürtel wölbte.
Jean-Louis Lemaire war siebzehn Jahre älter als Martine und mit einer Frau verheiratet, die zu verlassen er nie einen Gedanken gehabt hatte, wie viele junge Geliebte er auch sammelte. Es hatte Martine fast drei Jahre gekostet, das einzusehen, und ein weiteres halbes Jahr, den Bruch herbeizuführen.
Sie erinnerte sich sehr deutlich an den Augenblick, als sie sich entschieden hatte. Sie hatte zu dieser Zeit englische New-Wave-Musik geliebt, ein Geschmack, den sie mit Jean-Louis, der nur italienische Oper hörte, nicht teilte, und sie war zusammen mit ihrer Freundin Valérie nach Leedsgefahren, um sich einen Klubauftritt von Soft Cell anzuhören. Sie hatte vor der Bühne gestanden, als »Tainted Love« gesungen wurde, und die banalen Worte plötzlich als eine persönliche Botschaft empfunden, ein Messer durch ihr Herz:
»Sometimes I feel I’ve got to
Run away, I’ve got to get away
From the pain you drive into the heart of me.
The love we share seems to go nowhere …«
Idiotische Tränen hatten ihre Augen gefüllt und ihr sorgfältig aufgetragenes Mascara zerfließen lassen. Sie hatte versucht, die Tränen wegzublinzeln und sich in dem gedrängt vollen Lokal umgesehen. Durch die Rauchschwaden und den Schleier aus Tränen und Mascara war sie einem Blick aus zwei Augen begegnet, die sie direkt, fest und forschend ansahen.
Das war Thomas gewesen.
Sie wünschte, er wäre jetzt zu Hause statt in Schweden.
Aber in der Tiefe ihres Herzens wußte sie doch, daß sie die Beziehung mit Jean-Louis nicht bereuen konnte. Er hatte sich für sie interessiert und sie auf eine Weise ernst genommen, wie es noch niemand getan hatte, hatte nach ihren Ideen und Ansichten gefragt und sie ermuntert, mit dem Jurastudium anzufangen. Zwischen ihnen waren Dinge geschehen, die sie für immer geprägt hatten.
Eine Serviererin in schmucker Uniform kam mit einem Tablett mit Kaffeekanne und zwei Tassen herein, das sie auf den kleinen Tisch stellte. Jean-Louis nahm eine Mappe
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