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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Annick beschloß trotzdem, das Fax auf eigene Initiative nach Foch-Les-Eaux mitzunehmen.
    Nunzia Paolini betrachtete das Bild und sah Annick verständnislos an.
    – Aber er hieß ja Istvan, sagte sie, Istvan Juhász. »Pisti« war ein Kosename, aber alle nannten ihn so. Das hier verstehe ich nicht, meinen Sie, er hat überlebt?
    Annick sah in Nunzia Paolinis Augen, dunkel wie Schlehenbeeren unter langen, dicken Wimpern, und ahnte starkeGefühle darin. Trauer, Schmerz, Zorn oder vielleicht alles auf einmal? Das konnte sie nicht entscheiden.
    Sie glättete das Fax, das sie vor die andere Frau auf den Tisch gelegt hatte.
    – Ich weiß es überhaupt nicht, sagte sie vorsichtig, ich frage mich nur, ob Sie den Mann auf dem Bild möglicherweise wiedererkennen.
    Nunzia Paolini starrte unglücklich auf das Fax.
    – Aber wie soll ich sagen können, ob er es ist, sagte sie, es ist fast vierzig Jahre her, daß ich ihn gesehen habe, und das Bild ist viel zu undeutlich. Er könnte es sein, das ist das einzige, was ich sagen kann. Warten Sie, ich nehme das Bild aus unserem Archiv heraus, dann können Sie selbst vergleichen, so gut es geht.
    Sie zog eine Schublade in ihrem grauen Archivschrank heraus und griff nach einer Pappmappe.
    – Hier, sagte sie, hier haben wir Zeitungen von 1956.
    Sie blätterte vor zu einem Ausschnitt, zu dem, der für das Plakat an der Wand vergrößert worden war, und zeigte auf Istvan alias Pisti Juhász. Zusammen sahen sie die beiden Bilder an und versuchten, sie zu vergleichen.
    – Vielleicht, sagte Annick zögernd, sehen Sie, der Haaransatz ist sehr ähnlich, und das Kinn, aber unsere Kriminaltechniker müssen es genauer studieren. Können Sie von Pisti Juhász erzählen, wer war er? Und woher weiß man, daß er bei dem Unglück 1956 starb, ich meine, gibt es eine Möglichkeit, daß er überlebt haben kann?
    Nunzia Paolini nahm ihren blauen Popelinemantel von einem Haken an der Wand und zog ihn sich mit ruckartigen Bewegungen über, sie wirkte erregt.
    – Kommen Sie, sagte sie zu Annick, Sie wollen wissen, warum wir glauben, daß Pisti Juhász tot ist? Sie wollen etwasdarüber wissen, wer er war? Kommen Sie mit, dann zeige ich es Ihnen!
    Sie riß einen Schlüsselbund vom Schreibtisch an sich und marschierte aus dem Büro, ohne auf eine Antwort zu warten. Annick hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Auf dem Hof wandte sich Nunzia Paolini nach links und nahm Kurs auf ein rußiges Ziegelgebäude mit einer kurzen Treppe am Giebel. Sie ging die Treppe hinauf, schloß die Tür auf und forderte mit einer Geste Annick auf, vor ihr hineinzugehen.
    Sie kamen in eine Vorhalle, fensterlos und mit hoher Decke. Es roch muffig, und Annick merkte, wie feiner Staub aufwirbelte, wenn sie die Füße setzte, aber die Luft war trockener, als sie erwartet hatte.
    Nunzia Paolini öffnete die Tür zu einem großen, viereckigen Raum mit bleigefaßten Fenstern hoch oben und festmontierten Bänken an allen vier Wänden. Im Luftzug von der offenen Tür bewegte sich etwas über ihren Köpfen. Annick guckte hinauf zur Decke. In dem matten Licht, das durch die Schichten aus Ruß und Staub auf den Fenstern hereinsickerte, sah sie reihenweise Kleidung da oben hängen, Jacken und Hemden und Hosen in säuberlichen Reihen, die sie makabererweise an Massenhinrichtungen und Repressalien im Krieg denken ließen.
    – »Der Saal der Gehenkten«, sagte Nunzia Paolini leise, wie ein Echo ihrer Gedanken, so nannte man es. Das hier ist der Umkleideraum der Grubenarbeiter, man zog die Kleidungsstücke an die Decke, damit sie trocken und geschützt waren. Und die da oben hängen hier seit dem 7. August 1956, sie gehören den Männern, die an diesem Tag erstickt oder verbrannt sind.
    Annick blinzelte.
    – Meinen Sie, daß seitdem niemand den Umkleideraum benutzt hat? sagte sie.
    – Genau, sagte Nunzia Paolini, außer den Rettungsarbeitern und Ingenieuren, die in die Grube eingefahren sind, als die Katastrophe schon passiert war. Es war schon entschieden, daß die Grube im Herbst 1956 geschlossen werden sollte, man versuchte nur, in den letzten Monaten so viel Kohle wie möglich zu gewinnen. Aber nach der Katastrophe wurde es nicht für sinnvoll gehalten, wieder mit dem Abbau zu beginnen. Die Morgenschicht am 7. August 1956 war die letzte, die einfuhr, um in der Grube zu arbeiten.
    Annick atmete vorsichtig die muffige Luft des Umkleideraums ein. Ein schwacher Duft nach Turnhalle ruhte noch über dem Raum, als habe sich der Geruch der

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