Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
kritisch ist.
Martine lachte.
– Nicht ganz so schlimm, aber ja, etwas in dem Stil. Aber ich habe inzwischen ja gar keine Gefühle mehr für ihn, warum reagiere ich dann so?
– Bedingter Reflex, sagte Denise ruhig, du bist wie die Pawlowschen Hunde, denkst automatisch an Sex, wenn du dieses Bild siehst und Jean-Louis triffst. Das würde verschwinden, wenn du ihn öfter sehen würdest.
– Aber das will ich ja nicht, sagte Martine, und Thomas wäre gestreßt, wenn ich Kontakt mit ihm hätte.
– Weiß Thomas alles? fragte Denise.
– O ja, er weiß alles, und er betrachtet Jean-Louis als Belgiens führenden Stinkstiefel, sagte Martine.
– Wenn ich »alles« sage, meine ich wirklich alles, sagte Denise.
– Ja, wirklich alles, sagte Martine kleinlaut, aber das macht die Sache ja nicht besser. Und wie ist es mit dir?
– Ach, wie immer, sagte Denise, die Geschäfte gehen mies, und Max ist nie hier.
Sie starrte leer vor sich hin, und Martine legte die Hand auf ihren Arm. Sie saßen eine Weile stumm da, bis Martine auf die Uhr schaute und sah, daß sie fast eine Stunde unterwegs gewesen war. Besser, sie ging zurück zum Parlament, wenn sie nicht riskieren wollte, zur Befragung zu spät zu kommen.Sie ging auf dem Boulevard de l’Empéreur, als eine rothaarige Frau mit Karte in der Hand sie ansprach und auf englisch nach dem Weg zum Gare Centrale fragte. Sie klang ein bißchen wie Thomas, wenn er Englisch sprach, sein schwedischer Akzent hatte sie verwirrt, als er sie in diesem Klub in Leeds zum ersten Mal angesprochen hatte, und den raschen Stoß von Freude, der ihren Körper durchfuhr, als sie eine Stimme hörte, die sie an Thomas erinnerte, empfand sie beinah wie ein Zeichen von oben.
Sie lächelte die Rothaarige an.
– Are you from Sweden? fragte sie.
Die Rothaarige nickte und lächelte zurück. Sie hatte blaugrüne Augen in einem offenen Gesicht und einen Mund, der aussah, als falle es ihm leicht zu lächeln. Aber um die Augen und den bestimmten Mund waren Linien, die Martine sagten, daß sie eine Frau war, die wie sie selbst mit den Bürden der Macht und der Verantwortung kämpfte. Einen Augenblick hatte sie ein Gefühl, als ob zwischen ihr und der anderen Frau etwas hin und her ginge, ein Funke wortloser Sympathie. Sie hatte Lust, sich in ein Café zu setzen und mit der rothaarigen Schwedin zu sprechen. Aber dazu hatte sie keine Zeit, und so begnügte sie sich damit, den Weg zum Bahnhof zu erklären, bevor sie mit schnellen Schritten zum Parlament weiterging.
Birgitta Matsson sah der blonden Frau, die ihr den Weg gezeigt hatte, nachdenklich nach. Sie würde man trotz der blonden Haare nie für eine Schwedin halten, dachte sie. Nicht nur, daß sie in ihrem schwarzen Kostüm und mit ihren hohen Absätzen auf eine Weise elegant war, die man nur auf dem Kontinent sah – es war etwas in ihrem Gesicht, etwas an ihrer Art, beim Sprechen die Hände zu bewegen,etwas in ihrer Gehweise, sie paßte ganz selbstverständlich auf eine Straße in Brüssel und ebenso selbstverständlich absolut nicht nach Hammarås.
Dennoch hatte Birgitta mit der Blonden einen Augenblick lang Zusammengehörigkeit empfunden, einen Funken von Sympathie, der wie ein sekundenschneller elektrischer Schlag zwischen ihnen hin- und hergegangen war. Es lag eine Aura von Autorität um die andere Frau, aber etwas in den grünen Augen zeigte ihr, daß sie über etwas nachgrübelte, eine Verantwortung trug, die sie belastete. Wie Birgitta selbst. Ein paar Sekunden lang hatte sie den wahnsinnigen Impuls gehabt, die Blonde zu fragen, ob sie Zeit hatte, eine Tasse Kaffee zu trinken, sich ein Problem anzuhören und vielleicht einen guten Rat zu geben.
Manchmal waren die Ratschläge von Fremden die besten. Aber nicht, sagte sie streng zu sich selbst, wenn es um Geld und Arbeitsplätze und die Zukunft einer ganzen Gegend ging. Aber an wen sollte sie sich wenden? So viel stand auf dem Spiel, daß sie nicht das Risiko eingehen konnte, mit ihrem vagen und formlosen Verdacht sensible Verhandlungen in den Grund zu bohren. Trotzdem mußte sie etwas tun.
Sie dachte an das Telefongespräch, das sie vor einer Weile geführt hatte. Etwas dabei hatte sie beunruhigt, als sie aufgelegt hatte, sie spürte die Angst wie einen eiskalten Finger im Nacken. Aber was war es?
Birgitta Matsson glaubte nicht an Vorzeichen und Vorahnungen. Ihre Großmutter Janols’ Brita, der einzige Mensch, zu dem sie je aufgesehen hatte, hatte als hellsichtig gegolten, aber über
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