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Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Boulevard de Waterloo lockten sie heute überhaupt nicht. Statt dessen bog sie auf den Kantersteen ein und ging in Richtung des Wirrwarrs von Gassen am Hang zwischen der Grande Place und der Rue de la Régence weiter, während sie über ihre irritierende Unfähigkeit nachgrübelte, Jean-Louis gegenüber unberührt zu bleiben, obwohl das alte Fieber im Blut seit langem ausgebrannt war. Die störenden persönlichen Gedanken wechselten sich mit ungefährlicheren Überlegungen zu dem, was Jean-Louis von Stéphane Berger erzählt hatte, ab. Auch Jean-Claude hatte ja gesagt, daß Berger zweifelhafte Geschäfte zusammen mit Politikern in Villette machte. Wenndas zutraf, gab es viele skrupellose Personen in der Stadt, die unruhig geworden sein mußten, als der arme Fabien Lenormand anfing, in Bergers Geschäften herumzuschnüffeln. Das eröffnete viele Möglichkeiten. Aber sie mißtraute Jean-Louis’ Motiven und hatte Angst, daß ihre Morduntersuchung für einen internen politischen Machtkampf in der Region ausgenutzt werden würde.
    Jetzt war sie unten in den Vierteln, wo sie in der Zeit, als sie eine arme Studentin war, die nicht einmal davon träumen konnte, am Boulevard de Waterloo zu shoppen, gebrauchte Herrensakkos und antike Spitzenblusen gefunden hatte. Warum war sie eigentlich dorthin gegangen, um etwas Neues zum Anziehen zu finden oder um zu der zurückzufinden, die sie gewesen war, bevor sie Madame Poirot, die Richterin, wurde? Sie war damals verletzlich, unsicher und machtlos gewesen – sie konnte sich doch nicht in diese Zeit zurücksehnen? Aber sie war auch freier gewesen, dachte sie. Macht und Verantwortung waren schwere Bürden, die sie zu tragen hatte, obwohl sie sich das selten selbst eingestehen wollte.
    In einem kleinen Laden mit alten Sachen und Schmuck fand sie ein Paar emaillierte Ohrgehänge aus den dreißiger Jahren und eine platte, straßbesetzte Abendtasche aus Bakelit aus derselben Zeit mit Fach für Puderdose, Zigaretten und Lippenstift. Sie kaufte beides, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, wann sie für die Abendtasche Verwendung haben sollte. Aber sie war erlesen wie ein Schmuckstück und würde perfekt zu dem Kleid passen, das Tatia ihr geschickt hatte. Sie steckte die Papiertüte mit der Tasche und den Ohrgehängen, sorgfältig in rosa Seidenpapier gewickelt, in die Handtasche. Allein der Gedanke daran, daß sie dort waren, bewirkte, daß sie sich besser fühlte. SchöneDinge waren Talismane für sie, sie gaben ihr Kraft und schützten gegen die, die ihr übelwollten. Sie erinnerte sich, wie sie damals, als die Polizei ihr Zuhause durchsuchte, in ihrem Zimmer gesessen und versucht hatte, an die Puppe zu denken, die sie in einem Schaufenster an der Chaussée de Waterloo gesehen hatte und die ihr zu ihrem elften Geburtstag so gut wie versprochen worden war.
    Sie war herumgeschlendert, ohne auch nur daran zu denken, welche Straßen sie wählte, und plötzlich stand sie vor dem Antiquitätengeschäft ihrer Freundin Denise von Espen in der Rue des Minimes. Denise war unten im Keller, kam aber herauf, als sie die Türklingel bimmeln hörte. Zuerst sah Martine den glatten, dunklen Kopf der Freundin durch die enge Wendeltreppe heraufkommen, dann die hellblaue Hemdbluse und den karierten Schottenrock. Wie gewöhnlich sah Denise aus wie eine dunkelhaarige Grace-Kelly-Kopie, und wie gewöhnlich hatte sie etwas, das sich davon abhob, diesmal eine Totenkopfschließe am Gürtel.
    – Martine, sagte sie erfreut, ich wollte etwas später ins Parlament kommen und dir zuhören. Aber müßtest du nicht schon dort sein?
    Sie setzte sich auf ein seidenbezogenes Louis-Seize-Sofa, und Martine sank neben sie.
    – Ich war schon da, sagte sie düster, und bin auf die Befragung vorbereitet worden, und zwar vom Vorsitzenden des Ausschusses, nämlich Jean-Louis.
    – Und? sagte Denise.
    Sie und Martine kannten sich, seit sie in Uccle zusammen zur Schule gegangen waren, und Denise hatte die Geschichte mit Jean-Louis durch all ihre Phasen bis zum bitteren Ende verfolgt.
    – Ach, ich weiß nicht, sagte Martine, er hatte ein wertlosesBild an der Wand, das in seinem Büro in Liège hing, und als ich es sah, bekam ich die gleichen Gefühle wie damals, als ich zweiundzwanzig war und es allein bei dem Gedanken, ihn zu treffen, am ganzen Körper kribbelte.
    – Was denn, mußt du den Slip wechseln, sagte Denise, die weniger prüde war, als sie aussah, ich habe vielleicht ein paar aus einem Nachlaß im Keller, wenn es

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