Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
lebendigen Körper der toten Männer beharrlich gehalten. Annick erschauerte.
– Was ist eigentlich genau passiert? fragte sie. Ich war noch nicht einmal geboren, als sich die Katastrophe ereignete, und ich fürchte, ich habe nicht sehr viel darüber gelesen.
Nunzia Paolini lächelte schwach.
– Da sind Sie nicht die einzige, sagte sie, ich hoffe, wir können das ändern, wenn wir das Museum hier eingerichtet haben. Aber jetzt möchten Sie wohl eine Schnellversion. Ja, was passierte, war, daß es zu einer großen Explosion von Grubengas kam, gerade als die Morgenschicht eingefahren war und mit der Arbeit begonnen hatte. Mehrere Arbeiter starben direkt bei der Explosion. Aber was dazu führte, daß das Unglück einen solchen Umfang bekam, war der anschließende Großbrand in der Grube. Zu der Explosion kam es genau da, wo ein Ort in einen der großen Schächte zum Fördern und Bewettern mündete. Die Hydraulik, die dieFörderanlage betrieb, war ölbasiert, und die Hitze von der Explosion steckte das Öl in Brand, und dann war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Es war ja eine Kohlengrube, und Kohle brennt. Die Kabel der Förderkörbe schmolzen durch die Hitze, und für die Männer, die da unten festsaßen, gab es keine Chance zum Ausfahren. Die meisten wurden von Kohlenmonoxyd erstickt. 162 Arbeiter starben.
– Und Pisti Juhász war einer von ihnen, sagte Annick, oder man hat es geglaubt. Aber wie kam man dazu?
– Das zeige ich Ihnen, sagte Nunzia Paolini, kommen Sie!
Sie gingen auf den Korridor, vorbei an einem spartanischen, weißgekachelten Raum mit einfachen abgetrennten Duschen bis zu einem fensterlosen Raum mit einer furnierten Holztheke und Haken an den Wänden.
– Die Lampenausgabe, sagte Nunzia Paolini, wer in die Grube einfuhr, hinterlegte im Austausch gegen eine Lampe seine Personalmarke. Auf diese Weise konnte man sehen, wer unten in der Grube war.
Sie trat hinter die Theke und zeigte auf die Wand, wo Reihen runder Messingmarken an Haken hingen.
– Hier, sagte sie, sehen Sie!
Die Marke, auf die sie zeigte, hing ganz außen in der untersten Reihe. Annick beugte sich vor und las darauf: »733 Juhász, Istvan«.
– Er zog sich um, hinterlegte seine Marke und holte seine Lampe ab, sagte Nunzia Paolini, daran gibt es keinen Zweifel, und deshalb hat man angenommen, daß er in die Grube einfuhr und mit den anderen umkam.
– Hat man den Körper gefunden? fragte Annick.
Die andere Frau schüttelte den Kopf.
– Einige wurden unter den Gesteinsmassen begraben,und man fand sie nie, es wurde angenommen, daß Pisti einer von ihnen war, sagte sie.
– Aber gibt es irgendeine Möglichkeit, daß er auf dem Weg zwischen Umkleideraum und Grube verschwunden sein kann? fragte Annick.
Nunzia Paolini nahm die Messingmarke vom Haken und wog sie mit nachdenklicher Miene in der Hand.
– Er hatte verschlafen, sagte sie, Pisti hatte an diesem Tag verschlafen. Wir wohnten in derselben Baracke, und ich war draußen auf dem Hof, als er angelaufen kam und sich aufs Fahrrad warf. Ja, er kann trotz allem zu spät gekommen sein, aber wo ist er dann abgeblieben? Warum sollte er verschwinden?
Sie blinzelte und strich sich mit der Rückseite der Hand über die Augen.
– Ich habe um Pisti getrauert, sagte sie schwer, ich hatte ihn gern, verstehen Sie, er redete immer mit mir und machte Witze, ich habe ihm italienische Lieder beigebracht, und ich lernte von ihm ein Lied auf ungarisch, ein Erntelied. Und jetzt sagen Sie, daß er vielleicht nicht tot ist. Ich weiß nicht, ob mich das freut oder ob es mich nur wütend macht. Ich dachte, wir wären Freunde. Wie konnte er mich da glauben lassen, daß er tot ist, wenn er es nicht war? Wie konnte er?
Ihre Stimme überschlug sich fast. Annick sah in ihre schlehenbeerendunklen Augen unter den dicken Wimpern und sah den verständnislosen Blick des kleinen Mädchens, das an einem heißen Augusttag vor einer Arbeiterbaracke gespielt hatte, kurz bevor der Rauch aus der brennenden Grube den Himmel schwärzte. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
– Aber ich weiß, mit wem Sie sprechen müssen, sagteNunzia Paolini mit ruhigerer Stimme, reden Sie mit Suzanne Tavernier. Sie betreibt die Brasserie direkt an der Einfahrt nach Foch-les-Eaux. Sie war zu dieser Zeit Pistis Freundin. Aus irgendeinem Grund hat sie immer daran gezweifelt, daß er bei der Katastrophe wirklich umgekommen ist.
KAPITEL 6
Freitag, 23. September 1994
Brüssel / Villette / Granåker
Jean-Louis
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