Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
empfehlen könnte, und da gab ich ihm ein paar Tips. Dann kam er kurz vor neun zurück, vielleicht viertel vor, und ging rauf in sein Zimmer. Ich nehme an, er hängte seine Jacke auf, ja, und stellte diese große Schultertasche rein, die er dabeihatte, aber nach einer Weile kam er wieder runter und kaufte ein Bier bei mir, wir haben keine richtige Bar, aber ein paar Getränke zum Verkauf.
Angélique Lubaki zeigte auf einen altertümlichen Kühlschrank, der hinter der Rezeptionstheke stand.
– Und dann? fragte Christian.
– Wir haben keine Fernseher in den Zimmern, sagte sie, wenn man fernsehen will, muß man das im Gesellschaftsraum machen, da, wo wir auch das Frühstück servieren.
Christian schaute durch eine Türöffnung rechts von der Rezeption und sah einen fensterlosen Raum mit schmutzigem Teppichboden. In einer Ecke des Raums stand ein Fernseher, ein Siebziger-Jahre-Modell, vor einem durchgesessenen Sofa und zwei Sesseln im selben Stil. Im übrigen bestand die Einrichtung aus einem halb entlaubten Ficus benjamini und vier klapperigen Tischchen, umgeben von Sperrholzstühlen. Er fragte sich, wie das Frühstück war.
– Er ging da rein und setzte sich, sagte Angélique Lubaki, aber es gab eine kleine Diskussion. Er, Fabien, wollte Nachrichten sehen, aber zwei von unseren Stammgästen, die da saßen, wollten unbedingt diese alte französische Polizeiserie sehen, die, die montags, mittwochs und freitags um neun auf den französischen Kanälen läuft. Sie waren in der Überzahl, Fabien mußte nachgeben.
– Welche Polizeiserie war das, fragte Christian, obwohl er die Antwort wußte. »Die Bullen von Saint-Tropez«?
Sie lächelte ihn blendend weiß an.
– Genau, so hieß sie! Fabien kam hier raus und murrteein bißchen, aber dann ging er wieder rein und setzte sich, er hatte wohl nichts Besseres zu tun. Und dann, verstehen Sie, nach fünfzehn, zwanzig Minuten kam er wieder raus und sah aus, als hätte er im Lotto gewonnen! Und dann sagte er: »Ich muß jemanden küssen, Angélique, bitte, sagen Sie, daß ich Sie küssen darf«, und dann küßte er mich irgendwie in den Mundwinkel. Dann bat er, telefonieren zu dürfen, und er wählte eine Nummer, der Anruf ging nach Villette, das sah ich auf der Rechnung, und ich hörte, daß er zu der Person, mit der er sprach, sagte, daß er eine phantastische Entdeckung gemacht hätte, etwas »ganz Unglaubliches«, sagte er.
Birgitta Maria Matsson war aus dem Obergeschoß eines leeren Privathauses in dem Viertel, das der Place de la Gare am nächsten war, erschossen worden. Als der Bahnhof neu erbaut war, hatten viele gutsituierte Bewohner von Villette in dessen Nähe ein elegantes Townhouse für sich bauen lassen, aber das war, bevor der sich verdichtende Autoverkehr den Bahnhofsplatz mit Lärm und Abgasen gefüllt hatte.
Jetzt wollte niemand dort wohnen, und mehrere der einst so imponierenden Häuser befanden sich in weit fortgeschrittenem Verfall.
Die Rückseite der Häuserreihe lag zu einer Sackgasse hin, deren andere Seite ganz von einem Bürokomplex eingenommen wurde, einer anonymen grauen Wand mit Reihen von Fenstern, wo alle Jalousien heruntergelassen waren.
– Hier muß man an einem Samstagvormittag nicht mit viel Publikumsverkehr rechnen, man geht kein Risiko ein, stellte Martine fest, als sie vorsichtig über die zerschlagenen Flaschen auf dem Hinterhof stieg.
– Nein, sagte Kommissar Debacker, das einzige, was man riskiert, ist, auf Katzen und den einen oder anderen Stadtstreicher zu treffen, die verschaffen sich manchmal Zutritt in die Häuser. Aber dieses Mal anscheinend nicht.
Nachdem man wußte, aus welcher Richtung die Schüsse gekommen waren, war es keine größere Kunst gewesen, das richtige Haus zu finden. Der Schütze hatte reichlich Spuren im Staub hinterlassen, jetzt sorgfältig abfotografiert, aber nichts, was von größerem Nutzen zu sein schien.
– Er hat natürlich Handschuhe angehabt, sagte Debacker, Schuhe mit Kreppsohlen ohne besondere Kennzeichen, und natürlich hat er keine Zigarettenstummel mit Speichel oder andere interessante Spuren hinterlassen.
Früher einmal mußte der Raum sehr schön gewesen sein, dachte Martine. Sie betrachtete die hohe Decke, den offenen Marmorkamin, die Walnußtäfelung der Wände und die Scheiben aus farbigem Glas im Jugendstilmuster in den drei hohen, bleigefaßten Fenstern, jetzt verborgen unter jahrealten Schichten von Schmutz und Hinterlassenschaften von Ratten und Mäusen und von Vögeln, die
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