Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
durch die kaputten Scheiben hereingeflogen waren.
Der Schütze schien am offenen Mittelfenster gekniet zu haben, gestützt auf die tiefe Fensterbank aus Walnuß. Als Martine aus dem Fenster sah, hatte sie einen perfekten Blick geradeaus auf den Platz, wo vor ein paar Stunden Birgitta Matssons toter Körper gelegen hatte.
– Er muß hier gestanden haben wie ein Jäger, der auf seine Beute wartet, sagte Jean-Paul Debacker, und nach ersten Untersuchungen der Experten heißt es, daß sie mit einem Jagdgewehr erschossen wurde, vermutlich mit Zielfernrohr, so eines, das man benutzt, um Wildschweine und Hirsche zu jagen, diesen Typ größerer Beutetiere.
– Aber dieser Jäger hat sich mit seiner Beute verabredet, sagte Martine, Claudine de Jonge im Blumengeschäft meinte, daß es so wirkte, als ob die Schwedin sich um zehn mit jemandem verabredet hatte und auf dem Platz stand, um auf ihn oder sie zu warten. Er muß ihr gesagt haben, wo sie auf ihn warten sollte.
Sie dachte an die rothaarige Frau, die sich ohne Mißtrauen in Position gestellt hatte, um zu sterben. Sie hatte zwei Kinder, hatte Thomas gesagt, sie war eine gute Frau und eine beliebte Bürgermeisterin.
Und diese schwedische Bürgermeisterin, die nach Villette gekommen war, um Fragen nach Stéphane Bergers Geschäften zu stellen, war ermordet worden, genau wie Fabien Lenormand, der auch Fragen nach Stéphane Bergers Geschäften gestellt und wichtige Informationen in einer schwedischen Zeitung gefunden hatte. Es war schwer zu glauben, daß das ein Zufall war, dachte Martine noch einmal. Es mußte einen Zusammenhang geben.
Einen schwindelerregenden Augenblick lang fragte sie sich, was passiert wäre, wenn sie damals, als ihre Wege sich in Brüssel gekreuzt hatten, ihrem unbegreiflichen Impuls gefolgt wäre und Birgitta Matsson vorgeschlagen hätte, zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken. Sie hätten eine halbe Stunde gesessen und geredet, und dann wäre sie nicht im Parlament gewesen, als Nathalie Bonnaire anrief, Guy Dolhet hätte nicht gehört, was sie sagte, Nathalie Bonnaire wäre nicht überfallen worden, und sie hätten das schwarze Notizbuch bekommen. Vielleicht hätten sie jetzt Fabiens Mörder verhaftet, und vielleicht hätte niemand mit einem Jagdgewehr auf Birgitta Matsson gewartet. Die kleinen Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, dachte sie, die kleinen Entschlüsse, zu denen wir kommen – wir wissennie, ob alles anders geworden wäre, wenn wir einen anderen Weg zum Zug genommen, zehn Minuten länger in einem Café gesessen oder mit einer Fremden gesprochen hätten, anstatt weiterzugehen.
– Jetzt haben Sie das hier gesehen, sagte Jean-Paul Debacker, ich dachte, es wäre gut, wenn Sie ein Bild davon haben, wie der Mord begangen wurde. Wir haben natürlich eine besondere Gruppe für diese Morduntersuchung gebildet, und im Moment sind wir dabei, die Viertel zu durchkämmen, um jemanden zu finden, der gesehen hat, wie der Schütze gekommen oder verschwunden ist.
Martine hatte eine Weile überlegt, ob sie vorschlagen sollte, daß die Voruntersuchung des Mordes an Birgitta Matsson der Polizei im Justizpalast übertragen würde, aber im Augenblick sah sie keinen Grund dafür, die kommunale Polizei auszuschalten.
– Sie hatte den Paß in der Handtasche, sagte sie, gab es noch mehr Interessantes darin?
– Das kann man sagen, sagte Debacker, Sie möchten vielleicht mitkommen und einen Blick darauf werfen? Es ist ja nicht weit zu gehen.
Martine und Julie trotteten hinter Debacker her zum kommunalen Polizeigebäude von Villette, das ein paar Blocks vom Bahnhof entfernt näher am Zentrum und an der Grande Place lag.
Debackers Mordgruppe hatte sich in einem Konferenzraum mit Fenster zum Hof eingerichtet. Eine junge Polizeiassistentin saß dort jetzt allein an einem Computer, und Debacker stellte sie Martine vor.
– Hier, sagte er und ging zu einem kleinen Tisch, hier haben wir den Inhalt der Handtasche.
Er zeigte auf ein paar Papiere, säuberlich in Plastikmappengelegt. Es schien eine Reportage aus einer Zeitschrift zu sein, Paris Match vielleicht, und handelte von Stéphane Berger als Kunstsammler. »Was hat ›Inspektor Bruno‹ an den Wänden? Wer sich an die populäre Fernsehserie erinnert, würde wohl erwarten, daß der Interpret des herzensbrechenden Inspektors Stéphane Berger sein Heim mit Pin-up-Bildern, vielleicht dem einen oder anderen Hirsch im Gegenlicht schmückt. Aber Stéphane Berger hat statt dessen eine der
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