Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Uhr gesehen hatte, »als ob sie um zehn jemanden treffen wollte«, und sich ganz außen auf den Platz gestellthatte, »als ob sie auf jemanden wartete«. Sie hatte um zehn eine Verabredung, und die war es, die sie das Leben gekostet hatte. Aber mit wem?
– Wie viele wußten von Ihrer Verabredung mit Madame Matsson? fragte Martine. Annalisa Paolini zuckte die Achseln.
– Alle möglichen im Rathaus, nehme ich an, sagte sie, ich habe es mehreren Personen gegenüber erwähnt, und meine Sekretärin vermutlich auch.
Julies Stift kratzte über den Stenogrammblock. Annalisa Paolini zog an ihrem roten Schal und schien über etwas nachzudenken.
– Man erzählt, sagte sie, daß Sie sich Stéphane Bergers Geschäfte im Zusammenhang mit dem Mord an diesem französischen Journalisten ansehen?
Martine bedachte sie mit einem ausdruckslosen Blick.
– Man erzählt so viel, sagte sie. Ihr kam ein Gedanke.
– Übrigens, was den Mord an Fabien Lenormand angeht, sind Sie zufällig verwandt mit Nunzia Paolini, für die er gearbeitet hat?
Die Vizebürgermeisterin lächelte.
– Annunziata ist meine große Schwester, sagte sie, ja, ich habe gehört, daß Sie sie kennengelernt haben.
– Sie scheint sich für ihre Aufgabe sehr zu engagieren, sagte Martine, während sie an den Kontrast zwischen den beiden Schwestern dachte – die füllige, schlichte große Schwester Annunziata und die temperamentvolle, elegante kleine Schwester Annalisa. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie früher als Waisen im Kinderheim gewesen waren, die beschützende Nunzia und die niedliche kleine Nali.
Annalisa Paolini sah verärgert aus.
– »Fanatisch«, meinen Sie vielleicht, sagte sie, es gibtLeute, die finden Nunzi fanatisch, wenn es um das Grubenunglück geht. Aber sie hat ihre Gründe. Ich weiß nicht, ob sie von unserem Hintergrund erzählt hat?
– Sie hat erzählt, daß Ihr Vater einer von denen war, die beim Grubenunglück umkamen, und daß Sie kurz danach Ihre Mutter und Ihren kleinen Bruder verloren haben, sagte Martine vorsichtig.
– Ach so, sagte die Vizebürgermeisterin, das hat sie. Dann verstehen Sie vielleicht, warum sie so engagiert ist, oder fanatisch, je nachdem, wie man es sieht.
– Aber es ist für Sie beide gutgegangen, sagte Martine.
Annalisa Paolinis Züge wurden weich.
– Und das habe ich Nunzia zu verdanken, wissen Sie. Sie wurde erwachsen an dem Tag, als unsere Mutter starb, sie wurde meine Mutter und Beschützerin, obwohl sie nur drei Jahre älter war. Sie sorgte dafür, daß ich meine Hausaufgaben machte, sie sorgte dafür, daß wir etwas von dem Geld bekamen, das an die Angehörigen der Katastrophenopfer ausbezahlt wurde, sie sorgte dafür, daß wir beim Prozeß 1959 zu den Klägern gehörten. Dann wurden wir beide von dieser Stipendienstiftung in Messières, Sie wissen schon, unterstützt. Dank ihrer konnte Nunzia ins Gymnasium gehen, anstatt direkt nach der Grundschule arbeiten zu müssen.
Die Vizebürgermeisterin stand auf.
– Ja, das war wohl alles. Wenn Sie mehr über Madame Matssons Besuch erfahren wollen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden.
Sie fegte aus dem Raum, und sie hörten das Echo ihrer roten Absätze im Korridor verhallen.
Das, was jetzt das Handwerksdorf in Hammarås war, war früher einmal der Schandfleck der Stadt gewesen, eine Ansammlungwindschiefer Holzhäuser mit Plumpsklo, Pumpe auf dem Hof und Wanzen in den Tapeten. In den sechziger Jahren waren die Holzhäuser sukzessive abgerissen worden, um modernen Mietshäusern Platz zu machen. Aber einige von ihnen hatten stehenbleiben dürfen, als in den siebziger Jahren das Geld der Kommune knapp zu werden begann, und jetzt waren sie zu pittoresken Geschäftsräumen für hoffnungsvolle Handwerker aufgerüstet worden. Sophie ging an einer Webstube mit Flickenteppichen im Schaufenster, einem Laden für handgemachte Holzspielsachen und einem Gewürzhandel, der getrocknete Kräuter, hausgemachte Teemischungen, Duftkerzen und griechische Waschschwämme verkaufte, vorbei. Sie blieb vor jedem Schaufenster unnatürlich lange stehen und versuchte, sich einzureden, daß sie sich für »Sennhüttenmädels Abendtee«, hergestellt aus getrockneten Himbeer- und Johannisbeerblättern von Fexåsens Sennhütte, wirklich ernsthaft interessierte.
Aber sie mußte weiter, es half nichts. Ganz hinten in der Häuserreihe sah sie das Banner, das keck an seiner Stange flatterte, eine lilafarbene Lederflagge mit dem Text »Saris Christers Lederschneiderei« in
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