Die Günstlinge der Unterwelt - 5
ausgiebig überdacht. Es ist nicht erforderlich, noch tiefer in einem ausgetrockneten Brunnen zu graben. Man wird davon nur durstiger – dadurch kommt vielleicht Hoffnung auf, aber man findet kein Wasser.«
Schwester Philippas dunkle Augen und exotische Gesichtszüge verrieten nur selten eine Regung, trotzdem bemerkte Verna ein Anspannen der Muskeln an ihrem schmalen Kiefer.
»Aber Prälatin … wir werden nicht in der Lage sein festzustellen, ob ein junger Mann die erforderlichen Fortschritte macht oder ob er genug gelernt hat, um von seinem Rada’Han befreit zu werden. Es ist die einzige Möglichkeit.«
Verna verzog das Gesicht über den Bericht, den sie gerade las. Sie legte ihn zur späteren Bearbeitung zur Seite und widmete sich nun voll und ganz ihrer Beraterin. »Wie alt bist du, Schwester?«
Schwester Philippas finstere Miene blieb unbeirrt. »Vierhundertneunundsiebzig Jahre, Prälatin.«
Verna mußte gestehen, daß sie ein wenig Neid verspürte. Die Frau sah kaum älter aus als sie, und doch war sie in Wirklichkeit gut dreihundert Jahre älter. Die über zwanzigjährige Abwesenheit aus dem Palast hatte Verna Zeit gekostet, die sie niemals würde aufholen können. Sie würde niemals über die Lebenszeit verfügen, um das gleiche zu lernen wie diese Frau.
»Wie viele Jahre davon im Palast der Propheten?«
»Vierhundertundsiebzig, Prälatin.« Daß sie diesmal Vernas Titel ein wenig anders betonte, war nicht leicht herauszuhören, es sei denn, man achtete darauf. Verna hatte darauf geachtet.
»So. Du behauptest also, der Schöpfer habe dir eine Zeitspanne von vierhundertsiebzig Jahren gewährt, um sein Werk kennenzulernen, um mit jungen Männern zu arbeiten und ihnen beizubringen, wie man seine Gabe beherrscht und Zauberer wird, und während all dieser Zeit sei es dir angeblich nicht gelungen, zu einer Entscheidung über das Wesen deiner Schüler zu gelangen?«
»Nun ja, Prälatin, das war nicht genau das, was –«
»Willst du mir etwa weismachen, Schwester, ein ganzer Palast voller Schwestern des Lichts sei nicht gescheit genug, um zu entscheiden, ob ein junger Mann, der seit über zweihundert Jahren unserer Obhut und Vormundschaft unterliegt, zur Beförderung bereit ist – ohne daß man ihn einer brutalen Schmerzensprüfung unterzieht? Hast du so wenig Vertrauen in die Schwestern? Oder in die Weisheit des Schöpfers, der uns auserwählt hat, um sein Werk zu tun? Willst du mir vielleicht erzählen, der Schöpfer habe uns, uns allen zusammen, Tausende von Jahren der Erfahrung geschenkt, und wir seien immer noch zu unwissend, um sein Werk zu tun?«
»Ich denke, Prälatin, vielleicht seid Ihr –«
»Die Erlaubnis wird verweigert. Jemandem solche Schmerzen zuzufügen, ist ein abscheulicher Mißbrauch des Rada’Han. Der Verstand eines Menschen kann daran zerbrechen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß junge Männer bei diesen Prüfungen gestorben sind.
Geh und erkläre diesen Schwestern, ich würde von ihnen erwarten, daß sie sich ein Verfahren überlegen, wie diese Aufgabe ohne Blutvergießen, Erbrechen und Geschrei zu bewerkstelligen ist. Du könntest sogar etwas Revolutionäres vorschlagen, wie … ach, was weiß ich … wie vielleicht mit den jungen Männern zu reden? Es sei denn, die Schwestern befürchten, sie könnten überlistet werden. In diesem Fall will ich, daß sie mir dies eingestehen und einen Bericht darüber schreiben, für die Akten.«
Schwester Philippa stand einen Augenblick lang schweigend da. Vermutlich überlegte sie, welchen Sinn es hatte, noch länger zu widersprechen. Widerstrebend verbeugte sie sich schließlich. »Ein sehr weiser Entschluß, Prälatin. Vielen Dank, daß Ihr mich erleuchtet habt.«
Sie machte kehrt und wollte gehen, doch Verna rief sie zurück. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Schwester. Mich hat man das gleiche gelehrt wie dich. Ich habe das gleiche geglaubt. Ein junger Mann von gerade mal gut zwanzig Jahren hat mir gezeigt, wie sehr ich mich geirrt habe. Manchmal beschließt der Schöpfer, uns Sein Wissen auf eine Weise zu vermitteln, auf die wir nicht vorbereitet sind. Er erwartet aber, daß wir bereit sind, Seine Weisheit zu empfangen, wenn er sie uns darbietet.«
»Sprecht Ihr von dem jungen Richard?«
Verna ließ den Daumennagel über die unordentlichen Kanten der Stapel mit Berichten gleiten, die ihrer Erledigung harrten. »Ja.« Sie gab ihren offiziellen Tonfall auf. »Philippa, ich habe gelernt, daß diese jungen Männer, diese Zauberer,
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