Die Günstlinge der Unterwelt - 5
das ist meine Arbeit. Aber die Vorstellung, einen wieder auszubuddeln, da läuft’s mir kalt den Rücken runter. Das ist wie eine Grabschändung. Klar, damals haben wir auf die alten Zeiten getrunken und so und haben uns kaputtgelacht.«
Vernas Gedanken rasten in alle Richtungen gleichzeitig. »Wen hat er exhumiert? Und auf wessen Anordnung?«
»Alles, was er gesagt hat, war, ›für den Palast‹.«
»Wie lange ist das her?«
»Eine ganze Weile. Ich weiß nicht mehr … wartet, das war nach der Wintersonnenwende, aber nicht lange danach, vielleicht bloß ein paar Tage.«
Sie rüttelte ihn am Kragen. »Wer war es? Wen hat er ausgegraben?«
»Ich hab’ ihn gefragt. Ich hab’ ihn gefragt, wer das war, den sie wiederhaben wollten. Er meinte: ›Das war denen egal, ich sollte sie nur einfach bringen, schön ordentlich eingewickelt in ein sauberes Leichentuch.‹«
Verna krallte ihre Finger in seinen Kragen. »Weißt du das ganz genau? Du hattest getrunken – vielleicht hat er dir nur einen Bären aufgebunden?«
Er schüttelte den Kopf, als fürchtete er, sie würde ihn abreißen. »Nein. Ich schwöre es. Ham denkt sich keine Geschichten oder Lügen aus, wenn er trinkt. Wenn er trinkt, erzählt er mir immer nur die Wahrheit. Egal, welche Sünde er begeht, wenn er trinkt, dann beichtet er sie mir. Und ich weiß noch ganz genau, was er mir erzählt hat – es war das letzte Mal, daß ich meinen Freund gesehen hab’. Ich weiß noch ganz genau, was er gesagt hat.
Er hat gesagt, ich soll die Rechnung auf jeden Fall an den Palast schikken, aber ein paar Wochen damit warten, weil sie soviel Arbeit haben, hätte man ihm dort erzählt.«
»Was hat er mit der Leiche gemacht? Wohin hat er sie gebracht? Wem hat er sie übergeben?«
Milton versuchte, ein Stückchen von ihr abzurücken, aber das ließ ihr Griff an seinem Kragen nicht zu. »Weiß ich nicht. Er hat gesagt, er hat sie in den Palast gefahren, auf einem Karren, richtig gut zugedeckt. Sie haben ihm einen Paß gegeben, damit die Wachen seine Ladung nicht durchsuchen. Er hat seine besten Kleider anziehen müssen, damit die Leute nicht merken, wer er ist, und er die feinen Leute im Palast nicht erschreckt und vor allem nicht das feine Empfinden der Schwestern verletzt, die sich mit dem Schöpfer unterhalten. Er hat gesagt, er hat getan, was man ihm aufgetragen hat. Und er war stolz, daß er alles richtig gemacht hat, weil er niemanden gestört hat, als er mit den Leichen da reingefahren ist. Das ist alles, was er mir darüber erzählt hat. Mehr weiß ich nicht, das schwöre ich bei meiner Hoffnung auf das Licht des Schöpfers, wenn mein Leben hier zu Ende ist.«
»Leichen? Du sagtest Leichen. Waren es mehr als eine?« Sie funkelte ihn bedrohlich an und packte noch fester zu. »Wie viele waren es? Wie viele Leichen hat er ausgegraben und dem Palast geliefert?«
»Zwei.«
»Zwei…«, wiederholte sie mit leiser Stimme und aufgerissenen Augen. Er nickte.
Vernas Hand löste den Griff an seinem Kragen.
Zwei.
Zwei Leichen, gehüllt in saubere Leichentücher.
Sie ballte die Fäuste und fing wütend an zu knurren.
Milton schluckte, hob abwehrend die Hand. »Da ist noch was. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist.«
»Was?« preßte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Er hat gesagt, sie wollten, daß sie frisch sind. Eine war klein und war nicht so schlimm, aber die andere hat ihn Zeit gekostet, das war eine große. Ich hab’ ihn dann nicht weiter danach ausgefragt. Verzeiht.«
Unter größten Mühen brachte sie ein Lächeln zustande. »Danke, Milton, du warst dem Schöpfer eine große Hilfe.«
Er raffte sein Hemd am Hals zusammen. »Danke, Schwester. Schwester, ich hab’ nie den Mut gehabt, in den Palast zu gehen, wo ich doch Totengräber bin. Ich weiß, die Leute mögen es nicht, wenn sie mich sehen. Also, ich bin jedenfalls nie dagewesen. Schwester, könnt Ihr mir vielleicht den Segen des Schöpfers erteilen?«
»Natürlich, Milton. Du hast Sein Werk getan.«
Er schloß die Augen und sprach murmelnd ein Gebet.
Verna berührte seine Stirn. »Dem Kind des Schöpfers Seinen Segen«, sprach sie leise und ließ die Wärme ihres Han in seinen Geist eindringen. Ihm stockte der Atem vor Verzückung. Verna überflutete seinen Geist mit ihrem Han. »Du wirst dich an nichts erinnern, was Ham dir beim Trinken über die Rechnung erzählt hat. Du wirst nur noch wissen, daß er erzählt hat, es sei seine Arbeit gewesen, aber welcher Art sie war, das weißt
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