Die Günstlinge der Unterwelt - 5
Dennoch, sie war eine Schwester des Lichts, was immer das bedeutete, und würde nicht so unvernünftig sein, auf eine bloße Vermutung hin alles aufs Spiel zu setzen. Sie mußte sich überlegen, wie sie feststellen konnte, wer im Besitz des anderen Buches war, und zwar auf eine Weise, die ihre Identität nicht verriet, falls sie sich irrte. Aber sie irrte sich nicht. Sie wußte, wer es hatte.
Verna küßte ihren Ringfinger und sprach leise ein Gebet, in dem sie um die Unterweisung des Schöpfers bat, und auch um Kraft.
Sie wollte ihrem Zorn Luft machen, doch vor allem mußte sie sich vergewissern. Mit zitternden Fingern nahm sie den Stift zur Hand und begann zu schreiben.
Zuerst müßt Ihr mir den Grund verraten, warum Ihr mich beim letzten Mal auserwählt habt. Ich weiß noch jedes Wort. Ein Fehler, und dieses Reisebuch wird zum Fraß der Flammen.
Verna klappte das Buch zu und steckte es wieder in die Geheimtasche an ihrem Gürtel. Zitternd zog sie die Steppdecke von ihrem Platz auf der Truhenbank und trug sie hinüber zu dem mächtigen Sessel. So einsam wie nie zuvor in ihrem ganzen Leben rollte sie sich im Sessel ein.
Verna dachte an ihr letztes Zusammentreffen mit Prälatin Annalina, als Verna nach all den Jahren mit Richard zurückgekehrt war. Annalina hatte sie nicht sehen wollen, und es hatte Wochen gedauert, bis man ihr endlich eine Audienz gewährte. Solange sie lebte, ganz gleich, wie viele hundert Jahre das werden mochten, nie würde sie diese Begegnung oder das, was die Prälatin zu ihr gesagt hatte, vergessen.
Verna war außer sich gewesen, als sie feststellte, daß die Prälatin ihr wichtige Informationen vorenthielt. Die Prälatin hatte sie benutzt, ihr aber nie die Gründe dafür verraten. Die Prälatin hatte sich erkundigt, ob Verna wußte, weshalb sie auserwählt worden war, um Richard suchen zu gehen. Verna sagte, sie halte es für ein Vertrauensvotum. Die Prälatin meinte, es sei, weil sie vermutete, daß die Schwestern Grace und Elisabeth, die sie auf der Reise begleitet hatten und die als erste auserwählt worden waren, Schwestern der Finsternis waren, und sie im Besitz vertraulicher Informationen aus den Prophezeiungen sei, in denen es hieß, die ersten beiden Schwestern würden sterben. Die Prälatin meinte, sie habe von ihrem Vorrecht Gebrauch gemacht, Verna als dritte Schwester auszuwählen.
Verna fragte: »Ihr habt mich ausgewählt, weil Ihr darauf vertraut habt, daß ich nicht eine von ihnen bin?«
»Ich habe dich ausgewählt, Verna«, sagte die Prälatin, »weil du ganz unten auf der Liste standest, und weil du im großen und ganzen recht unauffällig bist. Du bist ein Mensch, von dem man wenig Notiz nimmt. Sicher haben die Schwestern Grace und Elisabeth es deshalb bis an die Spitze der Liste geschafft, weil, wer immer die Schwestern der Finsternis anführt, sie für verzichtbar hielt. Ich habe Euch aus demselben Grunde ausgesucht.
Es gibt Schwestern, die für unsere Sache wertvoll sind. Ich konnte sie für eine solche Aufgabe nicht aufs Spiel setzen. Möglicherweise erweist sich der junge Bursche für uns als wertvoll, aber er ist nicht so wichtig wie andere Angelegenheiten im Palast. Es war schlicht eine Gelegenheit, die zu ergreifen ich mich entschloß.
Hätte es Schwierigkeiten gegeben, und keine von euch wäre zurückgekehrt, nun, ich bin sicher, du verstehst, daß ein General seine besten Offiziere nicht bei einer Mission von geringer Dringlichkeit verlieren möchte.«
Die Frau, die sie angelächelt und mit Anregungen erfüllt hatte, als sie klein war, hatte ihr das Herz gebrochen.
Verna zog die Steppdecke hoch und blickte durch ihre Tränen blinzelnd auf die Wände des Heiligtums. Sie hatte niemals etwas anderes sein wollen als eine Schwester des Lichts. Sie hatte eine von diesen wunderbaren Frauen sein wollen, die ihre Gabe dazu benutzten, hier in dieser Welt das Werk des Schöpfers zu tun. Sie hatte ihr Leben und ihr Herz dem Palast der Propheten geschenkt.
Verna wußte noch genau den Tag, als sie kamen, um ihr zu sagen, daß ihre Mutter gestorben sei. An hohem Alter, wie es hieß.
Ihre Mutter besaß die Gabe nicht und war daher für den Palast ohne Wert. Ihre Mutter lebte nicht in der Nähe, und Verna sah sie nur selten. Als ihre Mutter in den Palast kam, um Verna zu besuchen, war sie erschrocken, daß ihre Tochter nicht alterte wie ein normaler Mensch. Sie hatte das nie verstehen können, egal, wie oft Verna versuchte, ihr diesen Bann zu erklären. Verna wußte,
Weitere Kostenlose Bücher