Die Günstlinge der Unterwelt - 5
der Grund lag darin, daß ihre Mutter sich davor fürchtete, wirklich zuzuhören. Magie machte ihr angst.
Auch wenn die Schwestern keinerlei Versuch unternahmen, die Existenz des Banns rings um den Palast zu verheimlichen, der ihren Alterungsprozeß verlangsamte, die Menschen, die die Gabe nicht besaßen, hatten trotzdem Schwierigkeiten, sich einen Reim darauf zu machen. Dies war Magie, die keine Bedeutung für ihr Leben hatte. Die Menschen waren stolz darauf, in der Nähe des Palastes zu leben. Und wenn sie den Palast auch voller Ehrerbietung betrachteten, so grenzte die Ehrerbietung doch an ängstliche Vorsicht. Sie wagten es nicht, ihre Gedanken auf Dinge zu richten, denen soviel Macht innewohnte, etwa so, wie sie die Wärme der Sonne genossen, es aber nicht wagten, direkt hineinzusehen.
Als ihre Mutter starb, war Verna seit siebenundvierzig Jahren im Palast, und doch war sie dem Aussehen nach gerade erst zu einer jungen Frau herangewachsen.
Verna erinnerte sich an den Tag, als man kam und ihr mitteilte, daß Leitis, ihre Tochter, gestorben sei. An Altersschwäche, hieß es.
Vernas Tochter, Jedidiahs Tochter, besaß die Gabe nicht, und war daher ohne Wert für den Palast. Es wäre besser, hieß es, wenn sie von einer Familie aufgezogen würde, die sie liebte und ihr ein ganz normales Leben möglich machte. Ein Leben im Palast sei für jemanden ohne die Gabe kein Leben. Verna hatte das Werk des Schöpfers zu erledigen und fügte sich stillschweigend.
Besaßen sowohl Mann und Frau die Gabe, so erhöhte sich die Chance, wenn auch kaum, daß die Nachkommen ebenfalls mit der Gabe geboren wurden. Daher konnten Schwestern und Zauberer mit Zustimmung, wenn nicht gar offizieller Ermunterung rechnen, wenn sie ein Kind zeugten.
Einer Übereinkunft zufolge, die der Palast stets unter solchen Umständen traf, wußte Leitis nicht, daß die Menschen, die sie aufzogen, nicht ihre leiblichen Eltern waren. Verna vermutete, daß dies zu ihrem Besten war. Was für eine Mutter hätte eine Schwester des Licht schon sein können? Der Palast hatte für ihre Familie gesorgt, so brauchte sich Verna wegen des Wohlergehens ihrer Tochter keine Sorgen zu machen.
Mehrere Male war Verna zu Besuch gekommen – als Schwester, die einer Familie ehrlicher, hart arbeitender Menschen den Segen des Schöpfers brachte –, und Leitis hatte stets glücklich ausgesehen. Bei Vernas letztem Besuch war Leitis grau und gebeugt gewesen und hatte nur noch mit Hilfe eines Stockes laufen können. Für Leitis war Verna nicht mehr dieselbe Schwester, die sie besucht hatte, als sie, sechzig Jahre zuvor, ›Fangt den Fuchs‹ mit ihren jungen Freundinnen gespielt hatte.
Leitis hatte Verna angelächelt, aus Freude über den Segen, und hatte gesagt: »Ich danke Euch, Schwester. So jung und schon so begabt.«
»Wie geht es dir, Leitis? Hattest du ein gutes Leben?«
Vernas Tochter lächelte bescheiden. »Aber ja, Schwester, ich hatte ein langes und glückliches Leben. Mein Mann ist vor fünf Jahren gestorben, doch davon abgesehen hat der Schöpfer mich gesegnet.« Dann hatte sie stillvergnügt gelacht. »Ich wünschte nur, ich hätte noch mein braunes, lockiges Haar. Es war einmal so wunderschön wie Eures. Ja, das war es – das schwöre ich.«
Beim Schöpfer, wie lange war es her, daß Leitis gestorben war? Es mußte an die fünfzig Jahre her sein. Leitis hatte Kinder gehabt, doch Verna hatte nicht einmal ihre Namen erfahren wollen.
Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr beim Weinen fast die Kehle zu.
Sie hatte soviel dafür gegeben, eine Schwester zu sein. Sie hatte den Menschen einfach nur helfen wollen. Nie hatte sie etwas verlangt.
Und war zum Narren gehalten worden.
Sie hatte nicht Prälatin werden wollen, doch jetzt fing sie gerade an zu glauben, sie könnte die Stellung vielleicht dazu benutzen, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen und das Werk zu tun, für das sie alles andere geopfert hatte. Statt dessen war sie ein weiteres Mal zum Narren gehalten worden.
Verna hielt die Decke fest umklammert und schüttelte sich unter Weinkrämpfen, bis das Licht vor den kleinen Fenstern in den Giebeln längst erloschen war, und ihre Kehle rauh wurde.
Mitten in der Nacht beschloß sie schließlich, ins Bett zu gehen. Sie wollte nicht im Heiligtum der Prälatin bleiben, der Raum schien sie nur zu verhöhnen. Sie war nicht die Prälatin. Endlich hatte sie alle ihre Tränen vergossen und spürte nichts als ein betäubendes Gefühl der
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