Die Günstlinge der Unterwelt - 5
An einem goldenen Ring an der Außenseite seines linken Nasenlochs war ein dünnes Goldkettchen befestigt, das bis zu einem weiteren Ring in der Mitte seines Ohres reichte. Er war glattrasiert bis auf einen fünf Zentimeter langen, geflochtenen Schnurrbart, der nur an den Ecken seines ekelhaften Grinsens wuchs, sowie einen weiteren geflochtenen Bart mitten unter seiner Unterlippe.
Seine Augen jedoch waren es, die jeden fesselten, den sie in den Blick faßten. Sie hatten überhaupt kein Weiß. Sie waren von einem dunklen Grau, das getrübt wurde von düsteren, dämmerigen Partikeln, und doch gab es nicht den geringsten Zweifel darüber, wann er einen ansah.
Sie waren wie ein Doppelfenster in die Welt der Alpträume.
Das fiese Grinsen verschwand und machte einem heimtückisch wütenden Funkeln Platz. »Ihr seid spät dran«, meinte er mit tiefer, heiserer Stimme, die sie ebenso mühelos erkannten wie seine alptraumhaften Augen.
Ulicia vergeudete keine Zeit mit einer Antwort und ließ sich auch nicht anmerken, was sie vorhatte. Sie verknotete die Ströme ihres Han, so daß sie jetzt sogar ihren Haß kontrollieren konnte und nur noch eine einzige Facette ihrer Gefühle – Furcht – auf ihren Gesichtern zu erkennen war, damit sie ihn nicht durch ihre Zuversicht warnten.
Ulicia verschrieb sich ganz der Vernichtung von allem, was sich vor ihren Zehen befand – im Umkreis von zwanzig Meilen.
Mit heftiger und derber Wucht riß sie die hemmenden Sperren von der ungestümen Energie, die dahinter gefangen war. Gedankenschnell, mit donnernder Heftigkeit, explodierten Additive und Subtraktive Magie in einer mörderischen Eruption nach vorne. Sogar die Luft verbrannte heulend. Der Saal fing Feuer in einem gleißend hellen Blitz aus doppelter Magie – Gegensätzen, die sich zu einer ohrenbetäubenden Entladung ihres Zorns verflochten.
Ulicia war selbst erstaunt, was sie hier entfesselt hatte.
Das Gewebe der Wirklichkeit schien zu zerreißen.
Ihr letzter Gedanke war, daß sie die gesamte Welt vernichtet haben mußte.
27. Kapitel
Schneeflockenartigen Bruchstücken eines düsteren Traumes gleich, kam alles wieder langsam zurück in ihr Gesichtsfeld – zuerst die Doppelfeuer, dann die Fackeln, die dunklen Wände aus Stein und schließlich die Menschen.
Einen verblüffenden Augenblick lang war ihr ganzer Leib taub, dann kehrte die Empfindung mit einer Million Nadelstiche in ihren Körper zurück. Alles tat ihr weh.
Jagang riß ein großes Stück aus einem gegrillten Fasan. Er kaute einen Augenblick lang, dann wedelte er mit dem Beinknochen in ihre Richtung.
»Weißt du, was dein Problem ist, Ulicia?« fragte er, noch immer kauend. »Du benutzt Magie, die du ebenso schnell entfesseln kannst wie einen Gedanken.«
Das fiese Grinsen kehrte auf seine fettigen Lippen zurück. »Ich dagegen bin ein Traumwandler. Ich benutze die Zeit zwischen den Gedankensplittern, die Ruhe, in der nichts existiert, um das zu tun, was immer ich tue. Ich schlüpfe hinein, wo niemand sonst eindringen kann.«
Er fuchtelte wieder mit dem Knochen und schluckte. »Siehst du, in diesem Augenblick zwischen den Gedanken ist die Zeit für mich unendlich, und ich kann tun, was immer mir beliebt. Ihr könntet ebensogut steinerne Statuen sein, die versuchen, mich zu hetzen.«
Ulicia spürte ihre Schwestern durch die Verbindung. Sie war noch immer da.
»Primitiv. Sehr primitiv«, sagte er. »Ich habe andere gesehen, die es viel besser machten, aber die waren auch geübt darin. Ich habe euch die Verbindung gelassen – fürs erste. Fürs erste will ich, daß ihr euch gegenseitig spürt. Später werde ich sie unterbrechen. So wie die Verbindung kann ich auch euren Verstand zerstören.« Er nahm einen kräftigen Schluck Wein. »Aber ich finde, das alles ist so unergiebig. Wie kann man jemandem eine Lektion erteilen, wirklich eine Lektion erteilen, wenn sein Verstand sie nicht begreift?«
Über die Verbindung spürte Ulicia, wie Cecilia die Kontrolle über ihre Blase verlor und der warme Urin ihr die Beine herablief.
»Und wie?« hörte sich Ulicia mit hoher Stimme fragen. »Wie könnt Ihr die Zeit zwischen den Gedanken nutzen?«
Jagang nahm sein Messer zur Hand und schnitt sich eine Scheibe Fleisch auf einem reich verzierten Silberteller ab, der neben ihm stand. Er spießte das blutige Mittelstück mit der Messerspitze auf und stützte seine Ellenbogen auf den Tisch. »Was sind wir alle?« Er schwenkte das Stück Fleisch in großem Bogen herum, während
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