Die Günstlinge der Unterwelt - 5
rote Flüssigkeit an seinem Messer herabtropfte. »Was ist Wirklichkeit – die Wirklichkeit unseres Seins?«
Er zog das Fleisch mit den Zähnen vom Messer, kaute und fuhr fort. »Sind wir unsere Körper? Ist ein kleiner Mensch dann also weniger als ein großer? Wenn wir unsere Körper wären, und angenommen, wir verlören einen Arm oder ein Bein, wären wir dann weniger als zuvor, würden wir aus dem Sein verschwinden? Nein. Wir wären immer noch derselbe.
Wir sind nicht unser Körper. Wir sind unsere Gedanken. Indem sie sich formen, bestimmen sie, wer wir sind, und schaffen so die Wirklichkeit unseres Seins. Zwischen diesen Gedanken gibt es nichts. Da ist nur der Körper, der darauf wartet, daß unsere Gedanken uns zu dem machen, was wir sind.
Zwischen euren Gedanken, da ist mein Platz. In diesem Zwischenraum zwischen euren Gedanken hat Zeit für euch keinerlei Bedeutung, aber für mich.« Er nahm einen kräftigen Schluck Wein. »Ich bin ein Schatten, der sich in die Risse eures Seins einschleicht.«
Durch die Verbindung konnte Ulicia fühlen, wie die anderen zitterten. »Das kann nicht sein«, erwiderte sie tonlos. »Euer Han kann die Zeit nicht dehnen, sie in Stücke brechen. Oder zerstören.«
Sein herablassendes Lächeln ließ ihr den Atem stocken. »Ein kleiner, unscheinbarer Keil, eingeführt in den Riß des größten, massivsten Felsens, kann ihn zum Zersplittern bringen. Ihn zerstören.
Dieser Keil bin ich. Dieser Keil wird jetzt in euren Verstand hineingehämmert.«
Sie stand stumm da, während er mit dem Daumen einen langen Streifen Fleisch aus dem gerösteten Spanferkel zog. »Wenn ihr schlaft, treiben und fließen eure Gedanken, und ihr seid verletzlich. Wenn ihr schlaft, seid ihr wie ein Leuchtzeichen, das ich aufspüren kann. Dann schleichen sich meine Gedanken in diese Risse. Die winzigen Zwischenräume, in denen ihr euch in euer Sein ein-und ausblendet, sind für mich wie Abgründe.«
»Und was habt Ihr mit uns vor?« fragte Armina.
Er riß ein Stück Schweinefleisch ab und ließ es von seinen fleischigen Fingern baumeln. »Nun, einer der Zwecke, für die ich euch brauche, ist unser gemeinsamer Feind: Richard Rahl. Ihr kennt ihn als Richard Cypher.« Er runzelte die Stirn über seinen dunklen, nie zur Ruhe kommenden Augen. »Der Sucher.
Bislang war er unverletzbar. Er hat mir einen riesigen Gefallen getan, indem er die Barriere zerstört hat, die mich auf dieser Seite gefangenhielt. Jedenfalls meinen Körper. Ihr, die Schwestern der Finsternis, der Hüter und Richard Rahl haben es möglich gemacht, daß ich der Rasse der Menschen zur absoluten Überlegenheit verhelfen kann.«
»Wir haben nichts dergleichen getan«, protestierte Tovi kleinlaut.
»O doch, das habt ihr. Seht ihr, der Schöpfer und der Hüter stritten um die Vorherrschaft in dieser Welt. Der Schöpfer einfach deshalb, weil er verhindern wollte, daß der Hüter sie der Welt der Toten zuschlägt. Und der Hüter einfach deshalb, weil er eine unersättliche Gier nach allem hat, was lebt.«
Er sah sie aus seinen pechschwarzen Augen an. »In eurem Bemühen, den Hüter zu befreien, ihm diese Welt zum Geschenk zu machen, habt ihr dem Hüter hier Macht verschafft, und das wiederum hat Richard Rahl auf den Plan gerufen, der zur Verteidigung der Lebenden angetreten ist. Er hat das Gleichgewicht wiederhergestellt.
In diesem Gleichgewicht, genau wie im Raum zwischen euren Träumen, dort ist mein Platz.
Magie ist der Zugang zu jenen anderen Welten, wodurch diese Welten Macht bekommen. Indem ich die Menge der Magie in dieser Welt verringere, verringere ich auch den Einfluß des Schöpfers und des Hüters. Der Schöpfer wird nach wie vor den Lebensfunken spenden, und der Hüter wird ihn nach wie vor nehmen, wenn das Ende gekommen ist, aber darüber hinaus wird die Welt den Menschen gehören. Die alte Religion der Magie wird dem Abfallhaufen der Geschichte anvertraut werden, und schließlich der Legende.
Ich bin ein Traumwandler. Ich habe die Träume der Menschen gesehen, ich weiß, wozu sie fähig sind. Magie unterdrückt diese grenzenlosen Visionen. Ohne Magie wird der Geist des Menschen, seine Phantasie, befreit werden, und er wird allmächtig sein.
Aus diesem Grund habe ich diese Armee. Wenn die Magie tot ist, werde ich sie noch immer haben. Ich werde dafür sorgen, daß sie für diesen Tag gut gerüstet ist.«
»Und wieso ist Richard Euer Feind?« fragte Ulicia in der Hoffnung, daß er weitersprach, während sie sich überlegte,
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