Die Gutachterin
du dich keine Sekunde.«
»Meinst du, ich kann zu den Tieren? Du weißt doch …«
»Ja, ich weiß, daß du Tiere magst. Und ich werde heute noch von Frankfurt aus den Kofler anrufen, vielleicht auch den Messener. Irgendeine Arbeit findet sich auf den Höfen bestimmt. Die sind froh, wenn sie eine Hilfe haben. Und kosten, kosten tust du ja nicht viel.«
»Ich? Ich koste nichts. Wenn ich nur zu den Tieren kann …«
Sie wollte weiterfahren, doch da riß er ihr plötzlich die Hand vom Steuer und bedeckte sie mit lauter kleinen Küssen. Diesmal entzog sie sie ihm nicht, sie spürte, wie sehr er sie brauchte.
»O Isa – Isa, Isa, Isa … Weißt du, was du bist? Das Beste, was ich je im Leben bekommen habe! Das Beste und das Größte … Du bist wie ein Wunder … Und soll ich dir sagen, was meine Mutter immer sagte? Die Wunder Gottes bekommt man nicht durch Beten – Gott schenkt sie … Du bist so etwas, ja, du bist das Wunder, das Gott mir geschenkt hat …«
Sie hatten den Kofler-Hof umfahren und endlich das Schafbach-Haus erreicht, das weiter oben am Hang, schon beinah an der Waldgrenze lag. Die Scheinwerfer beleuchteten die alte Holzbank und den alten Holztisch neben der Tür. So oft hatte sie an diesem Tisch mit ihren Patienten ihre Nöte und die Nöte dieser Welt durchdiskutiert – eingebettet in die Ruhe dieses fast unwirklichen Ortes.
Sie schaltete die Scheinwerfer aus.
»Nimm die Taschenlampe, Ludwig. Die ist im Handschuhfach.«
»Okay.«
Auch sie stieg aus und dehnte ihren schmerzenden Rücken. Über all den schwarzen Gipfeln schob sich nun ein zartgrün lasierender Streifen in die Dunkelheit des Himmels. Die Sterne dort oben verblaßten … Bald würde es so hell sein, daß man den See heraufblitzen sah … Doch sie mußte weg. Und das schnell.
»Ich hab' ihn!« hörte sie Ludwig rufen. Zuvor hatte sie ihm das Schlüsselversteck erklärt, und da kam er bereits angerannt und hielt den Schlüssel stolz wie eine Trophäe in die Luft: »Schau mal, und was für ein Ding!«
»Der gehört jetzt dir. – Los, laden wir aus.«
»Das hat noch Zeit.«
»Nichts hat Zeit, Ludwig. Ich muß weg! – Gleich.«
Vielleicht war es das ungläubige Erschrecken in seinem Gesicht, vielleicht ihre Nervosität – vor allem aber wohl die Tatsache, daß sie den Golf mit dem Heck zu nah an dem steil abfallenden Hang geparkt hatte –, jedenfalls, als nun die Heckklappe aufsprang und sie beide nach dem Koffer griffen, trat sie einen Schritt zu weit zurück, rutschte und verlor das Gleichgewicht. Er versuchte sie zu halten – doch da war es schon geschehen, der Fall, dann das Aufschlagen, ein Schmerz an der Schulter … Noch immer hielt er sie umfaßt, als könne er etwas verhindern, was nicht mehr zu verhindern war, und so kullerten sie aneinandergeklammert durch das Wiesengras, bis er aufschrie, weil ein Haselnußstrauch den Sturz abrupt gestoppt hatte …
»Isa?«
Sie hörte sein Keuchen. Er lag auf ihr, nie waren die Augen, nie das Gesicht so nahe gewesen – nicht nur das Gesicht, der Mund, dieser Mund, der flüsterte: »Isa, ich liebe dich so …«, der Körper, den sie nun spürte und gegen den sie sich nicht zu wehren wußte, diese Stimme, die immer wieder nur eines wiederholte: »Isa, ich liebe dich, liebe dich, liebe dich …«
Und der Mund, der sie küßte.
Sie ließ es zu …
Auf der Rückfahrt rührte Isabella das Autoradio nicht an. Sie wußte, was die Frühnachrichten verbreiten würden, und fühlte sich diesem zusätzlichen Streß nicht mehr gewachsen.
Irgendwo hinter Rosenheim fuhr sie den Golf auf einen Rastplatz, klappte den Sitz zurück und versuchte zu schlafen. Zwei Stunden und dreihundert Kilometer später, an einer Tankstelle, schloß sie sich in die Toilette ein, kramte die Kosmetik aus dem Beutel und versuchte, ihr Gesicht einigermaßen zu arrangieren. Es gelang ihr zumindest so weit, daß sie nicht zu erschrecken brauchte.
Sie zwang sich, alles zu vergessen, was mit den letzten zwölf Stunden zusammenhing. Von nun an gab es nur Zukunft, gab es nichts als Planung.
Zurück in Frankfurt, in der Praxis, rannte ihr sofort Uli entgegen: »Haben Sie schon gehört …?«
Isabella nickte.
»Die Polizei hat bereits angerufen.«
»Kann ich mir denken«, sagte sie mühsam. »Das wird noch ein Theater geben … Und was ist hier los?«
»Die Frau Schöler, sie wartet.«
»Biete ihr einen Kaffee an, Uli.«
Sie ging in ihr Zimmer. Ihre Beine zitterten jetzt, die Fingerspitzen waren kalt. Sie
Weitere Kostenlose Bücher