Die Gutachterin
Sie brauchen doch auch jemand, der Ihnen ein wenig unter die Arme greift? Die Beerdigungskosten zum Beispiel, die könnten wir übernehmen, wenn Sie uns ein bißchen …«
»Raus!« hatte sie gesagt.
Doch die Frau war nicht gegangen. Irma hörte sie weitersprechen. Sie fühlte sich so schwach, aber dennoch hatte sie es geschafft, sie durch den Korridor zur Tür zu drängen. Hastig hatte sie den Riegel vorgeschoben, und dann wollten die Knie nicht mehr, sie war die Tür hinabgerutscht, saß auf dem Fußabstreifer, hielt den Kopf in beiden Händen und konnte endlich wieder weinen …
* * *
Die Straße zog in einer Geraden einer Kuppe entgegen und bog dann scharf links ab. Konnarz stoppte den BMW. Sie hatten das Schild beide zur selben Zeit gesehen: SANATORIUM ROSSBERG.
Hier standen keine Kiefern, hier waren Buchen gepflanzt, rechts und links der Fahrstraße, die von der Kreisstraße den Hang hochführte.
Sie fuhren zirka fünf Minuten. Berling warf einen flüchtigen Blick auf die Borduhr: Von Marktheim bis hierher hatten sie noch nicht einmal eine Dreiviertelstunde gebraucht.
Konnarz deutete mit einer kurzen Kopfbewegung zu dem Parkplatz, der sich rechts der Straße öffnete. So groß wie ein Fußballfeld, und dennoch standen nicht mehr als ein halbes Dutzend Autos darauf. Der Platz war mit Schotter bestreut. Rechts daneben erhob sich ein Schild: ›Wir bitten die Besucher, sich im Pförtnerhaus anzumelden, bevor sie das Anstaltsgelände betreten.‹
»Na, den Hochbetrieb haben die wohl hinter sich …«
»Fahr weiter, Dicker!« sagte Berling.
Hier oben auf der Kuppe trat der Wald zurück. Die Straße führte genau auf ein in einem angenehmen gelbbraunen Ton gehaltenes breitgelagertes altes Gebäude zu. Auf dem Biedermeierdach saßen weißgestrichene Dachreiter. Auch die Fensterumrahmungen waren weiß. Rechts am Straßenrand, direkt hinter der niederen Mauer und dem Eingang mit den beiden Leuchten, stand das Pförtnerhaus. Die Läden daran waren geschlossen.
»Immer weiter, Dicker.«
Sie fuhren durch den hohen Torbogen, der sich in der Mitte des Baus öffnete, und erreichten einen breiten, gleichfalls von einer Mauer umschlossenen Hof. In ihm erhoben sich weitere Gebäude: Im rechten Winkel zur Haupthausachse waren es zweistöckige, moderne Bauten mit großen, von eloxierten Aluminiumrahmen eingefaßten Fenstern. Weiter unten, bereits am Ende, sah man den Küchenbau.
Berling nickte, und Konnarz stoppte den BMW.
Sie stiegen beide aus. Tim drehte mit dem Passat eine Kurve und stellte sich neben sie, die Schnauze wieder aufs Tor gerichtet, als müsse er sich einen möglichst schnellen und guten Abgang sichern.
»Und jetzt?« Auch er war ausgestiegen.
Genau – und jetzt?
Berlings Augen machten Bestandsaufnahme. An dem modernen Bau dort drüben gab es einen überdachten Haupteingang mit einem Messingschild, dessen Inschrift er auf diese Entfernung nicht zu lesen vermochte. Wahrscheinlich die Verwaltung. Zwei Rollstühle standen daneben.
Eine ganze Herde davon hatte sich vor dem Eingang des anderen Hauses versammelt. Das Erdgeschoß wies hohe Fenster auf. Sie befanden sich in Kippstellung, und aus den Öffnungen klang ein sonderbarer Tonbrei, eine Mischung aus hohen, piepsenden, aber auch dunkel-gutturalen, unfertigen und hilflosen Lauten, die ab und zu von Händeklatschen und den Kommandos einer Frauenstimme unterbrochen wurden.
»Na, dann gehen wir mal.«
Berling wollte gerade auf das Messinggold am Eingang zumarschieren, als sich die Tür öffnete. Eine Frau trat heraus. Ja, es war eine Frau, obwohl die weiten Männerhosen, der unförmige Pullover, vor allem aber das Format der Figur zunächst an einen Mann denken ließen. Sie mußte beinahe ein Meter neunzig groß sein, hatte das graue Haar glatt an den Kopf gebürstet und hinten zu einem Knoten zusammengebunden. Ihr Gesicht wirkte, das ließ sich trotz des Abstands erkennen, ziemlich energisch.
»He! – Wie kommen Sie hier herein? Wer sind Sie? Suchen Sie jemand? Was machen Sie hier im Hof?«
Auch die Stimme – energisch.
Sie setzten sich beide in Bewegung, gingen über die Zementplatten des Hofes und trafen sich so ziemlich in der Mitte. Berling stellte sich und Erich Konnarz vor, zeigte seine Marke und sagte: »Ich suche den Leiter der Anstalt.«
»Oh, Polizei? – Ich hätte es mir denken können … Tut mir leid, Professor Scheuerleber ist im Moment nicht da. Ich bin Dr. Schönert, die kommissarische Leiterin. Vielleicht kann ich Ihnen
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