Die Gutachterin
behilflich sein?«
Sie hatte ein Lächeln, das Berling gefiel, knapp, ironisch, auf Distanz und doch nicht unsympathisch. Die ganze Frau gefiel ihm, und sah sie hundertmal so aus, als würde sie nach einem Tag mit Spastikern und Paraplegikern noch Gewichteheben trainieren, sie machte – nun, einen zuverlässigen Eindruck.
»Es tut mir leid, daß ich Sie störe, aber wissen Sie …« Berling sagte, was zu sagen war.
Vom Küchenbau wehte Essensduft herüber. Nun verspürte auch er Hunger. Ihr Blick war noch immer auf ihn gerichtet. Sie hatte hellbraune, ins Grünliche spielende Augen.
»Dieser Mann, dieser …«
»Ladowsky.«
»Ja nun, ist ja eigentlich egal, wie er heißt … Sie vermuten, daß er sich hier um Roßberg herumtreibt oder womöglich irgendwo bei uns, in irgendeinem Raum oder auf dem Gelände steckt? Das wollten Sie doch sagen?«
»Ich vermute es nicht, Frau Dr. Schönert. Und was ich vermute, ist auch nicht so wichtig. Ich wollte nur eine eventuell bestehende Möglichkeit ausschließen. Es handelt sich, wie man's immer so schön in den Fernsehkrimis hört, um eine Routineaktion.«
»Ihr habt den Kerl, diesen Ladowsky – ihr habt ihn doch schon das ganze Wochenende gesucht. Nicht einmal am Sonntag hatte man Ruhe. Drei Stunden flogen uns ständig die Hubschrauber um die Nase. Und dann war auch 'ne Streife bei uns.«
»Richtig, Frau Doktor … Leider sind wir nun schon wieder hier.«
»Das seh' ich. Und genau das ist es, warum ich so stur bin: Wieso sind Sie zurückgekommen? Gibt's einen besonderen Hinweis?«
Berling sah hinüber zu der Rollstuhlherde. Ein großer, breitschultriger blonder junger Mann in einem weißen Anzug und in weißen Tennisschuhen trug einen Patienten aus dem Haus. Viel zu tragen hatte er nicht. Das Kind war eingekrümmt wie ein Bogen, nur der Kopf baumelte nach hinten, als habe man ihm das Genick gebrochen. Der linke Arm hing schlaff an der Seite herunter. Aber trotz des zurückgebogenen, zurückbaumelnden Kopfes stieß es vergnügte, lustige Schreie aus. Es sah aus wie ein halb verhungertes, krankes und dennoch fröhliches Äffchen.
Berling erläuterte seine Theorie, und sie erschien ihm dünner denn je.
»Das heißt also, daß er nach Ihrer Vorstellung auch irgendwo dort im Wald sitzen könnte und sehnsüchtig hier rüberschaut?«
»Das heißt noch gar nichts. Ich wollte mich nur erkundigen, ob irgend jemand von Ihrem Personal eine Beobachtung gemacht hat, die in diese Richtung deutet. Ich wollte auch wissen, wo zum Beispiel die Abfallkübel stehen und ob es möglich ist, in irgendeine Vorratskammer oder in das Innere des Gebäudes zu gelangen.«
»Na, das gefällt mir«, sagte sie trocken, verlor aber noch immer nicht ihr Lächeln.
Er sah auf seine Uhr: »Es ist jetzt zwölf Uhr dreißig. Sicher ist bei Ihnen bald Mittagspause. Wie viele Leute arbeiten hier?«
»Vierundvierzig. Aber in Schichten. Und so essen sie auch. Aber sie haben recht, die Vormittagsschicht sitzt um ein Uhr im Speisesaal. Mit denen könnten Sie reden.«
Der junge Mann drüben setzte sich in Bewegung und schob den Rollstuhl über den Hof, genau auf sie zu. Ja, er wollte wohl zum Eingang.
»Sie können ja bei ihm schon anfangen«, meinte sie.
Berling nickte und drehte sich um.
»Hans!« rief Frau Dr. Ellen Schönert, und der Mann kam näher. Der kleine Junge im Stuhl gab noch immer glucksende Laute von sich. Sein Alter war schwer zu schätzen, das Gesicht hatte etwas Vergreistes, die Haut spannte sich um seine Schädelknochen, der Mund hing schlaff, ein Speichelfaden rann ihm über die linke Kinnseite – und doch, diese Augen, sie wirkten aufmerksam, gespannt und ungemein wach; sie erinnerten Berling daran, daß er irgendwo einmal gelesen hatte, daß Paraplegiker überraschend hohe Intelligenzquotienten aufwiesen.
»Das ist Hans Terjan«, stellte Dr. Schönert vor. »Einer unserer Pfleger. – Hans, der Herr kommt von der Kripo und hätte einige Fragen.«
Sie gingen etwas zur Seite, damit der kranke Junge nicht mithören konnte.
Terjan riß geschockt die Augen auf. Er wirkte wie ein Fußballtrainer, dessen Mannschaft gerade ein Tor hinnehmen muß: »Dieser Killer, dieser Kreuz-Mensch, dieses Schwein? … Und hier? Na, Mahlzeit …! Haben Sie nicht was Schöneres auf Lager! – Aber wenn Sie schon fragen, lassen Sie mich mal überlegen. Da ist nämlich was …«
»Ja? Und?«
Er gab nicht direkt Antwort – er brauchte eine Pause. Nachdenklich schob er die gespreizten Finger durch sein
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