Die Gutachterin
deinen Tätertyp …
Er konnte nicht mehr. Sein Magen hatte sich zusammengezogen, er spürte den Thunfischgeschmack und die Übelkeit, die in ihm hochwallte.
Hastig stand er auf und lief die Treppe hinab zur Halle; da saß sie noch immer an ihrem Pullover.
»Frau Goldberg, mir ist nicht ganz gut.«
»'ne Tablette oder 'nen Schnaps?«
»Einen Schnaps.«
»Wodka?«
»Von mir aus.«
»Glas oder Flasche?«
»Am besten beides.« Er konnte wieder grinsen. Ihr Anblick tat ihm gut. Die Frau da in ihrem Sessel war so etwas wie ein Fels, sie kannte das Leben, und sie kannte seine Abgründe und Schatten – nichts, das ihr noch etwas anzuhaben vermochte.
Er trug das Tablett zurück in sein Zimmer, goß vorsichtig ein und nahm einen Schluck. Sein Schädel klärte sich.
Das Jahr von Dutroux …?
Halt mal: Es gab ja auch die gute Nachricht … War also alles nicht so schlimm … Schließlich: Die Zahl der Sexualdelikte ist eindeutig rückläufig. Inzestfälle allerdings, Beischlaf zwischen Verwandten, wie es der Paragraph 173 StGB ausdrückt, sind in der Statistik nicht enthalten. Na, was soll's, Hauptsache: Die positive Tendenz …! Vielleicht bringen Dutroux' Pornos doch die ersehnte Triebabfuhr? Mehr als fünfzig Prozent der Taten werden nicht etwa von Fremden begangen, nein, es sind die lieben Verwandten. Und was heißt schon Taten? Meistens sind's doch nur ›Vergehen‹. Vergleichen wir doch alles mal mit dem Jahr 1981, Delikte abgesehen, nur die Morde: Vierundzwanzig haben wir heute – damals aber, 1981, wie viele waren's?
Zweiundachtzig!
Rückläufig. Eindeutig … Was soll da das bißchen Rumgefummel und Vergewaltigen? Zahlen, was sind das schon?
Aber leider, es gibt ja noch die Schambarriere. Welches kleine Mädchen, welcher verprügelte, mißhandelte, vergewaltigte Junge zeigt schon Onkel oder Papi an?
Die kleine Spitze des Eisbergs sind Zahlen.
Und der Eisberg selbst?
Nun, sagen die schlauen Fachleute, so roh über den Daumen gepeilt nehmen wir das Zehnfache an – also mindestens eine halbe Million …!
* * *
Es lief gut, oh, es lief sogar sehr gut!
Richard Saynfeldt steuerte die Croissanterie auf der anderen Straßenseite an, die dunkelblaue Leinenjacke mit wehenden Ärmeln lässig über den Schultern hängend, komplettiert von dunkelblauen, tadellos gebügelten Hosen und vor allem brandneuen, funkelnden, höchst eleganten schwarzen Halbschuhen; ein gutgelaunter, nein, strahlender Oberstaatsanwalt, nicht einmal die sechshundertfünfzig Mark, die er für die verdammten Guccis bei ›Harry's‹ hingeblättert hatte, konnten seine Stimmung beeinträchtigen. Ein Saugeld, aber was soll's … Er sah auf seine Uhr: elf Uhr zehn? Niemeyer, dachte er, das arme Schwein steht gerade in der Hauptverhandlung gegen diese Scheißkerle von Kosovo-Albanern … An sich sein Fall, doch der Generalstaatsanwalt hatte ihn ihm abgenommen und an Niemeyer delegiert, und der schwitzte jetzt wohl, denn was bedeuteten schon zehn Tage Vorbereitung für einen derartigen Fall. Die Albaner war er los – aber welches Verfahren sorgte derzeit für einen solchen Wirbel wie der Kreuz-Mörder?
Richard Saynfeldt im Auge des Taifuns!
Er stieß die Tür der Croissanterie auf; sie war korallenrot. Drinnen waren Möbel und Theke blau lackiert. Die hübschen, engen Uniformen der Mädchen – wiederum korallenrot.
»Guten Morgen, Herr Doktor!«
Die Geschäftsführerin lächelte ihm zu. Sie hieß Heidi, hatte schwarze Haare und war blutjung wie ihr ganzes Personal.
»Wollen Sie Ihren Tisch?«
»Nein, diesmal setze ich mich lieber gleich hierher.«
Er nahm den Platz am Fenster, das den Blick zur Straße freigab. Seit der Wirbel losgebrochen war, hatte er ein Bedürfnis an sich entdeckt, das er bisher nicht kannte: stets die Umgebung zu beobachten, um so das Verhalten anderer kontrollieren, sich vor Überraschungen schützen zu können. Kalt erwischen zu lassen kam nicht mehr in Frage. Überraschungen wie jene, die ihm Isa bereitet hatte, würde es nicht mehr geben. Denn soviel stand ja wohl fest: Sie hatte gelogen.
»Heidi, könnte ich mal die FAZ haben?«
Sie brachte ihm die Zeitung, und er warf einen Blick auf die Inhaltsangabe. Über den Fall Ladowsky fand er nichts. Auch der Lokalteil konnte nicht mit einem Artikel oder einer Meldung aufwarten. Um so besser! Was er brauchte, war Schonzeit …
Er bestellte bei der Kellnerin ein Schinken- und ein Käsecroissant, dazu wie üblich Milchkaffee, nahm den ersten Schluck davon, um
Weitere Kostenlose Bücher