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Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)

Titel: Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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mein Vater einen der an der Mühle Getöteten aus, welchen er mit mir, noch ehe ihn die Leichenstarre ergriff, sezieren wollte. Alazaïs trug den Leichnam allein auf dem Rücken zum Tisch der Bücherkammer von Mespech, auf welchem sie ihn ablegte und ohne Schamhaftigkeit noch Gefühlsregung entkleidete, denn in den Augen der wackeren Jungfer zählte ein Mann kaum mehr als eine Laus, da ihre Liebe allein Gott im Himmel und ihr Verlangen nur der Ewigkeit galt.
    Miroul fachte das Feuer im Kamin wieder an, entzündete eine große Anzahl Kerzen, und kaum, daß wir Morion und Brustharnisch abgelegt, gingen wir, noch schwitzend vom Kampf, zu Werke, wobei mein Vater sich nicht für zu gering erachtete, das Messer selbst zu führen und so das Amt des Prosectors zu übernehmen, was in der Medizinischen Schule zu Montpellier kein einziger der ordentlichen Doctores getan hätte, so sehr dünkten sie sich darüber erhaben in eingebildeter Vornehmheit, nach der allem, woran der Mensch Hand anleget, der ehrenrührige Geruch der mechanischen Künste anhaftet, welche von den Gelehrten als gering und ihrer unwürdig betrachtet werden. Dies hat – was höchst bedauerlich ist – zur Folge, daß der Prosector, meist ein Bader, oft mehr weiß denn der Arzt, da er mit eigener Hand, welche durch das Auge nichtzu ersetzen ist, die Organe des Menschenkörpers wieder und wieder hin und her gewendet und zergliedert hat.
    Im Schein eines Leuchters, welchen Miroul über seinen Kopf hielt, begann mein Vater in der wieder eingekehrten nächtlichen Stille (auch Sauveterre hatte sich erschöpft und zerschlagen, das Bein nachziehend wie ein alter Rabe, zur Ruhe begeben), die Brust dieses armen Gesellen zu öffnen, der am Morgen desselben Tages noch heil und gesund gewesen, indes ich das Blut abtupfte, um besser zu sehen.
    »Dieser Bursche«, sprach ich, »hatte gar viel Blut. Es fließt in Menge.«
    »Ja!« sprach mein Vater, »Ihr sagt sehr richtig: es fließt. Und das ist das große Geheimnis des Lebens. Das Blut fließt in der Tat. Aber wieso und auf welche Weise? Welche Kraft bewegt es, entgegen seiner natürlichen Neigung zu fließen, nicht von oben nach unten, wenn wir aufrecht stehen oder gehen? Denn wohlgemerkt, würde das Blut fließen wie das Wasser des Beunes-Baches oder der Dordogne, so müßte unser Kopf leer von Blut werden und die Beine voll davon, sobald wir uns des Morgens erheben. Doch dem ist nicht so. Daraus folgert: das Blut wird von einer ihm eigenen Kraft in Bewegung gesetzt. Doch welcherart ist diese Kraft?«
    »Mein Herr Vater, kennt der Mensch diese Kraft?«
    »Nicht vollends, aber er befindet sich vielleicht auf dem rechten Wege, dies zu ergründen. Miroul, halte den Kandelaber so nahe als möglich heran. Sehet, mein Pierre, in dem Herzen da, welches ich geöffnet habe, die kleinen Pforten. Sie sind gar trefflich beschrieben worden von Sylvius zu Paris und Aquapendente zu Padua. Es sind in der Tat Pforten oder Schleusen, welche – bald geöffnet, bald geschlossen – den Strom des Blutes hindurchlassen oder absperren. Geht die treibende Kraft, welche wir suchen, also vom Herzen aus? Servet war dieser Ansicht, denn er spricht von der
Anziehung
, welche das Herz auf das Blut ausübt.«
    »Servet?« sprach ich fragenden Tones, »Michel Servet? Der hochberühmte Arzt, welchen Calvin zu Genf hat verbrennen lassen?«
    »Er ließ ihn verbrennen wegen seiner Ketzerei, nicht wegen seiner medizinischen Kunst, welche Servet, um mit der Wahrheit zu sprechen, beide miteinander in seinem Buche
Christianismi
restitutio
dargelegt; davon sind – Gott sei’s geklagt – alle Exemplare auf dem Scheiterhaufen, worauf der Autor zu Asche ward, in Flammen aufgegangen.«
    »Alle, mein Herr Vater?« sprach ich, die Kehle zugeschnürt wie seinerzeit, da der gottesleugnerische Abbé Cabassus vor meinen Augen zu Montpellier verbrannt wurde zusammen mit seinem NEGO.
    »Alle außer einem«, sprach mein Vater. »Außer einem, welches zum Glücke vom Scheiterhaufen fiel, ein wenig angesengt schon vom Feuer, doch ansonsten vollständig erhalten. 1
    Ich habe es auf einer Reise bei einem jüdischen Händler zu Genf gekauft, und es befindet sich noch immer in meinem Besitz.«
    Mein Vater legte sein Messer auf den Leichnam nieder und ging, aus einem Fach seiner Bücherei das Buch zu holen, welches er mit bewegtem Gesicht und blitzendem Auge an einer Stelle öffnete, an der ein Buchzeichen steckte. Ich gestehe ohne Scham, daß ich kaum zu atmen wagte und

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