Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)
mir das Herz bis zum Halse schlug, so sehr war ich von Kopf bis Fuß von einem unbändigen Wissensdurst erfaßt.
»Sehet hier das
opus magnum
«, sprach mein Vater. (Und ich sah seine Hände zittern vor Erregung.) »Mein Sohn, ich hege höchste Abscheu gegen die Theologie, welche in dieser Abhandlung enthalten, schätze jedoch die darin gemachten Ausführungen zur Medizin höher denn alle meine vergänglichen Güter, da sie – wie ich vermeine – das Wirken unserer edelsten Organe mit höchster Klarheit verdeutlichen. Höret, mein Pierre, mit weit geöffneten Ohren, was ich Euch verlesen will, denn dies ist die letzte Weisheit und der höchste Gipfel des menschlichen Wissens unserer Zeit in der Medizin:
Der Strom des Blutes durchfließt die Lungen, allwo es die Wohltat der Reinigung erfährt, und wird, befreit von allen schlechten Säften, vermittels der Anziehungskraft des Herzens zurückbeweget!«
»O mein Vater«, sprach ich, vor Aufregung zitternd, »ich bitt Euch, wiederholet diesen höchst wunderbaren Satz, dessen Weisheit mir das Herz erfreut.«
Und mit bebender Stimme verlas mein Vater den Satz ein zweites Mal, welchen ich – nicht ohne daß mir die Feder in der Hand gezittert – in mein Heft niederschrieb und in der innersten Kammer meines Gedächtnisses verschloß, damit mir kein Jota davon verlorenginge. Und dort befindet er sich noch immer, unversehrt, unverändert, vollständig bis zum letzten Buchstaben, gleich einem Banner, aufgepflanzt von einem friedlichen Eroberer in den unbekannten Regionen des menschlichen Körpers.
»O mein Vater«, sprach ich, »woher kommt die leuchtende Klarheit, welche mit einemmal den Geist erhellt, sobald man diesen Satz gehöret? Wie kommt es, daß man ihn sogleich als wahr erkennet?«
»Weil er«, so sprach mein Vater nicht ohne Freudigkeit in der Stimme, »in Einklang steht mit der natürlichen Vernunft, welche Gott uns verliehen, damit wir die Wahrheit erkennen mögen. Euch ist nicht unbekannt, was jener Aristoteles, welchen die Papisten zu ihrem Idol gemacht und von dem sie ein jegliches Wort für heilig halten, über das Herz gesagt: nämlich daß das Herz warm sei und die Neigung besitze, sich zu überhitzen, und die Lungen Blasebälgen glichen, welche ihm Luft zuführen, es zu kühlen! Törichtes Geschwätz!« rief mein Vater, die
Christianismi restitutio
von Michel Servet hochhaltend. »Törichtes Geschwätz! Widersinnige, offenkundige Ungereimtheiten! Trug und Täuschung! Gelehrte Eselei! Denn ist es nicht klar und ersichtlich, daß im Sommer, während der Hundstage, die warme Luft, welche die Lunge einsaugt, ganz und gar nicht das Herz kühlen kann! Ganz im Gegenteil! Und also enthalten die Worte Michel Servets, welche ich soeben verlesen, eine unumstößliche Wahrheit. Denn wozu sonst, so frage ich Euch, sollte Luft von der Lunge eingesaugt werden, wenn diese Luft nicht dazu diente, das Blut zu nähren und zu reinigen, und wie sollte wohl das Blut wieder aus der Lunge hinausgelangen, wenn es nicht
zurückbeweget
– achtet wohl auf dieses Wort – zurückbeweget würde vom Herzen?«
»Ei gewiß!« rief ich, wie trunken davon, daß ich von dem Kelche dieses herrlichen Wissens gekostet, »das ist die Wahrheit, man fühlt es, die wunderbare Wahrheit. Das Geheimnis allen Lebens ist eingeschlossen in diesem Satz! Denn es gibt keinerlei Leben ohne das Blut, welches unseren Körper in gewundenen,verzweigten Bahnen durchströmt. Mein Herr Vater, warum mußte dieser große Denker auf dem Scheiterhaufen enden?«
»Nun, mein Pierre«, sprach Jean de Siorac mit betrübtem Gesicht, »ich kann Calvin nicht gänzlich unrecht geben; in törichter Kühnheit hatte Michel Servet gewagt, eine andere unumstößliche Tatsache zu bestreiten, nämlich das Geheimnis der heiligen Dreifaltigkeit.«
Ich wollte mit meinem Vater nicht über diesen Gegenstand disputieren, um seine Betrübnis nicht zu mehren, doch ich vermeinte in meinem Innersten, daß jene beiden Wahrheiten – die medizinische und die theologische – unterschiedlicher Natur seien, da erstere auf der Beobachtung der Natur beruhte, die zweite, was heißen soll: die der heiligen Dreifaltigkeit, sich hingegen auf die Autorität eines heiligen Textes gründete und durch diese Tatsache ebenfalls heilig war, aber dem menschlichen Geiste so wenig verständlich, daß man sie schlucken mußte, ohne zu kauen, und mit geschlossenen Lidern; so schluckte ich sie wie eine bittere Pille, ohne das geringste dabei zu verspüren
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