Die gute Stadt Paris: Roman (German Edition)
»die Thomassine ist hier und auch, ich weiß es, mein Samson. Ich bitte Euch, gehet und rufet sie. Ich habe vor der Tür eine Mietkutsche stehen und gedenke, mit ihnen zum Nadelhaus zu fahren, wo mir die gute Thomassine – wie ich hoffe – Herberge gewähren wird. Doch ich flehe Euch an, eilet! Ich vermag nicht länger zu warten! Mir scheint, ich glühe!«
Oh, Herr! was ist die Macht des Weibes für ein seltsam Ding! Wie sehr stehen wir unter ihrem Bann! Und wie regieret sie den Mann! Welcher jedoch in seinem Dünkel und seiner Hoffart vermeinet, er regiere über alles! Das Teufelsweib hatte mich so erstaunt, verwirrt und umgarnt, daß ich eilte, ihr zu gehorchen, so ein Narr war ich. Und ein Narr war auch mein Samson, welcher schier die Sinne verlor, da er sie so unversehens vor sich sah, die Maske hebend und ihn mit ihren schönen Augen verliebt anblickend.
Dieser kurze Blickwechsel genügte, und kaum in der Kutsche, war er trotz allem Aufbegehren seines hugenottischen Gewissens ihrem Bann mit Haut und Haar verfallen, indes die Thomassine an seiner Seite in ihrem Innersten bejammerte, daß eine so große Liebe auf so sandigen Boden gebauet, und ich auf der Schwelle der Herberge über die Einfalt meines vielgeliebten Bruders stöhnte, obgleich es mich – trotz allem, was ich wußte – gelüstet hätte, an seiner Statt in der Kutsche zu sitzen.
Zurückgekehrt in den Schankraum der
Drei Könige
und von einem zum andern gehend, wurde ich von allen Seiten darob gelobet, daß ich meine
triduanes
auf so meisterliche Art und Weise bestanden, welche Komplimente ich mit zufriedener und höflicher Miene anhörte, jedoch war ich mit meinen Gedanken nicht recht bei der Sache, da mein Sinn mir noch schwer war von dem Wermutstropfen, welcher gemeiniglich in den Becher unserer Erfolge und Freuden fällt. Zumal ich auch einige Müdigkeit nach meinen aufreibenden Disputationen verspürte und die Nacht schon ein gut Stück fortgeschritten, erging ich mich nicht lange in artigen Reden, als meine Gäste mich einer nachdem andern verließen, ausgenommen Doktor d’Ássas, welchen ich zurückhielt, um ihm besonders zu danken. Wahrlich, was für ein trefflicher Mann! Dazu so offenherzig und leutselig!
»Pierre!« sprach er, mich herzlich umarmend (so gut es ging, denn sein Schmerbauch hinderte ihn, mich allzu sehr an sich zu drücken), »alljetzt seid Ihr im einundzwanzigsten Jahr Eures Alters Doktor der Medizin. Flügge geworden, werdet Ihr nun das Nest verlassen! Und wahrlich, ich werde Euch vermissen mit Euerm Wissensdurst und Eurer Lebenslust. Unter all meinen Schülern der verflossenen fünf Jahre waret Ihr mir der liebste, und ich hätte Euch gern alles gegeben, ausgenommen«, so fügte er mit einem verschmitzten Blick hinzu, »meine Hausmagd Zara und meinen Weingarten in Frontignan, welch beide Euch doch so verlockt, wenngleich die erstere mehr als der letztere. Pierre, ein Wort noch zur Medizin, welche Ihr mit Fleiß studieret. Nun, da Ihr von uns gehet, so rat ich Euch, vergesset allen schulischen Bombast, all diese hochtrabenden Disputationen, diese rechthaberischen Haarspaltereien, dies Latein und auch (er lächelte) dies Griechisch, dessen Ihr gar nicht mächtig! Alles leeres Geschwätz! Kärgliche Kost, die nicht nähret!
Crede mihi experto,
1
Roberto!
Drei Viertel all dessen, was Euch allhier gelehrt ward, ist keinen Pferdefurz wert. Sezieret! Nur dort ist die Wahrheit! Unter dem Messer! Unter den Augen! Unter dem Finger! Und leset fortan nur jene der großen Meister, welche das Messer gehandhabt! Michel Servet! Den großen Vesalius! Ambroise Paré! Vergeßt ein für allemal die Pinarelle und Pennedepié und all diese Esel im Talar, welche Aristoteles, Hippokrates und Galenus als Götter verehren und tagtäglich ausrufen:
Vetera extollimus recentium incuriosi.
2 Wer sich nämlich, mein Pierre, allein auf die Autorität der alten Meister beruft, kann nur staubichten Mumpitz verkünden. Wir Hugenotten aber, die wir die Autorität des Papstes ablehnen, desgleichen alle törichten Überlieferungen, allen Aberglauben, alle Heiligen und goldenen Götzenbilder, sollten auch in der Medizin unserem hugenottischen Wesen folgen! Laßt uns die nackte Wahrheit der Natur unter den Anhäufungen jahrhundertealter Irrtümer bloßlegen! Ein Maulesel mit einem Doktorhutauf dem Kopf bleibt ein Maulesel! Lasset ihn bei seinem altertümlichen Hafer iahen! Lasset Pinarelle seinen zweigeteilten Uterus! Und Pennedepié seine kleingeistigen
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