Die guten Schwestern
in ein asiatisches Land, möglichst weit weg von Europa. Wie schön es war, ihre warme Hand mit den feinen blauen Adern in seiner zu spüren und ihr Lachen zu hören, das auch in ihren Augen zu sehen war, die er beim erstenmal, in dem Preßburger Hotel, noch mit einem kalten Bergsee verglichen hatte.
»Die Archive!« sagte sie. »Du bist Historiker, Teddy, und mußt an den Wahrheitsgehalt der Archive glauben. Worin solltest du sonst forschen? Aber was findest du in den Archiven der Geheimdienste anderes als eitle Hoffnungen eitler Menschen, als ihre Versuche, sich wichtig zu machen, als ihr Verlangen, geliebt und ernstgenommen zu werden. Ihre Berichte bestehen zu neunzig Prozent aus Scheiße oder Selbstverständlichkeiten, zu zehn Prozent aus Lügen und zu fünf Prozent aus Wahrheit und vielleicht hier und da aus einem kleinen Geheimnis.«
»Das sind mehr als hundert Prozent.«
»Du kannst etwas abziehen, wo du willst.« Teddy lachte sie an. Er war glücklich. Sie würden noch eine lustige Zeit miteinander haben. Das war eine Schwester nach seinem Geschmack.
Sie ließ seine Hand los, schaute lächelnd zu dem fast völlig blauen Himmel empor, streckte die Arme über den Kopf und schüttelte ihr kurzes Haar. Teddy betrachtete sie beinahe verliebt. Deshalb sah er das kleine rote Loch und hörte das dumpfe Geräusch des Projektils auf ihrer rechten Brust und sah den Blutfleck an der Wand hinter dem viel größeren Austrittsloch, noch bevor er den Pistolenschuß selber hörte, dem noch einer folgte und noch einer, der nur einen halben Meter von seinem erstarrten, schockierten Gesicht entfernt den Putz abplatzen ließ, ehe Mira mit einem gurgelnden Laut und aufgerissenen Augen von ihrem Schemel seitwärts in den schwarzen Morast rutschte, aus dem nur vereinzelte Grashalme emporragten.
Per Toftlund war die entscheidenden Sekunden zu spät gekommen.
Wie Teddy war er in der trostlosen, stillgelegten Fabrik herumgegangen und hatte versucht, Elend, Hoffnungslosigkeit und Gestank zu ignorieren, während er nach einer Frau Ausschau hielt, von deren Aussehen er nur nebulöse Vorstellungen hatte. Nach einer Weile war er vor dem letzten Gebäude von zwei Männern in weißen Hosen und Jacken, die das Rotkreuzzeichen trugen, angehalten worden. Auf ihrer linken Brusttasche war eine kleine norwegische Flagge aufgenäht.
Sie hatten ihn geradeheraus auf norwegisch gefragt, ob er einer der Dänen sei, die mit dem Konvoi aus Durrës gekommen waren. Es war ein seltsames Paar. Der eine war ein langer Lulatsch mit kleinen blauen Fischaugen und hochstehendem Haar, das in die Luft ragte wie Besenginster. Der andere war kompakt gebaut, mit braunen Haaren und Augen in derselben Farbe, mit einer kleinen Brille und einem blendend weißen Lächeln, als hätte sich der Schnee des norwegischen Fjells für immer auf seinen Zähnen abgelagert. Er hatte sich als Per Samuelsen, Arzt, vorgestellt und gefragt, ob Toftlund die drei Männer kannte, die sich als Mitglieder der dänischen Gesundheitsdelegation ausgegeben hatten, ihn dann aber mit verständnislosen Augen angeglotzt hatten, als er mit einem Lächeln und im Bewußtsein skandinavischer Gemeinsamkeit zur schönen singenden norwegischen Sprache übergegangen war.
»Ich habe wirklich noch nie einen Dänen getroffen, der nicht wenigstens ein paar Brocken Norwegisch verstehen konnte«, hatte Samuelsen gesagt. »Die haben sich weder wie Ärzte noch wie Dänen benommen, also habe ich die französischen Soldaten angerufen.« Dabei tätschelte er zärtlich das schicke, neue, kleine Satellitentelefon, das er in der Hand trug, als wäre es eine unschätzbar wertvolle Arzttasche. Toftlund hatte nur eine fragende Geste gemacht, und sie hatten in eine Richtung gezeigt und in ihrem Bergenser Dialekt »unten bei der Brotausgabe« gesagt, und dann war er losgelaufen, wobei ihm der Matsch die Hose hochspritzte und das Herz in seiner Brust galoppierte. Mit entsetzten Blicken sahen ihn Frauen und Kinder an, als er mit einer schnellen Bewegung die Pistole aus dem Holster riß, sie entsicherte und seinen Amoklauf fortsetzte, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob er verschreckte Menschen mit einem Brot oder einer jämmerlichen Dose Konserven in der Hand über den Haufen rannte. Sie wichen ihm aus, weil sie in seiner Miene die Gewalt wiedererkannten, vor der sie gerade geflohen waren.
Toftlund bog um das letzte Gebäude vor der Brotausgabe, das das äußerste Fabrikgebäude zum Zaun hin war. Da stand der eine der
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