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Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Die Habenichtse: Roman (German Edition)

Titel: Die Habenichtse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hacker
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glatte Haut vor ihm erreichte. Sie richtete sich eine winzige Spur auf, drehte den Kopf ein wenig, zum Zeichen, daß sie ihn hörte, bewegte die Schultern nicht. –Er ist gleich fertig, sagte sie nur.
    –Vielleicht lebt noch, wen Sanitäter auf die Tragbahre hievten. Vielleicht lebt einer mit von Glassplittern zerschnittenem Gesicht. Vielleicht lebt einer, dem der Arm, dem das Bein abgerissen wurde. Vielleicht winselt einer in einem der Gefängnisse, die wir bezahlen, hofft auf den Tod. Was haben wir, was halten wir in Händen? Daß uns noch nichts zugestoßen ist. Sollen wir dafür dankbar sein? fragt ihr, und ich sage nein. Dankbar nicht, aber demütig. Richtet euch auf und seid demütig und duldet nicht, was ihr an Unerträglichem seht. Ist der Krieg vorbei? Er ist vorbei, ruft ihr, und ihr wißt, daß ihr lügt. Ihr wißt, daß die zukünftigen Toten schon das Zeichen auf der Stirn tragen. Ihr wißt, daß Menschen nächtelang schluchzen und sich fürchten. Sie sehen ihre Kinder sterben. Sie sehen ihre Liebsten sterben. Sie sehen den Staub, der sich nicht setzen will, denn wir wirbeln ihn auf.
    –Mein Gott, sagte Jakob. Der Redner richtete sich auf, als hätte er Jakob gehört. –Sie werden es begreifen, bald schon, rief er Jakob zu, Sie werden es begreifen, und heute, heute und eines Tages werden Sie glücklich sein. –Aber was will er, sagte Jakob noch einmal, während die Menge sich zerstreute, gleichmütig, ungerührt, obwohl sie so geduldig zugehört hatte. Es war jetzt fast dunkel, Jakob fühlte, wie Augen ihn neugierig musterten, und die Frau, die vor ihm stand, drehte sich endlich um, lachte ihn an. –Ich heiße Miriam, sagte sie. Wie auf ein Zeichen ließen die anderen Blicke von ihm ab, verschwanden Richtung Untergrundbahn, liefen nach rechts und links, und der Prediger packte einen Beutel, einen Schlafsack, verschwand auch. –Dir ist kalt, Miriam griff Jakobs Hand wie die eines Kindes. –Ich mache dir Tee, sagte sie, als wäre es selbstverständlich, komm nur, es ist nicht weit von hier, und da ging sie neben ihm, hielt seine Hand, ging mit schnellen Schritten, so freundlich, dachte Jakob benommen, so zuversichtlich. Er zitterte, als sie ein Zimmer betraten, in dem nur ein Tisch und ein Sofa standen, über einem niedrigen Bücherregal hingen Fotos, es wirkte einladend und doch traurig. –Darf ich dir die Schuhe ausziehen? fragte sie, als er auf dem Sofa saß, streifte ihren Pullover ab, schlüpfte aus den Jeans, kniete halb nackt vor ihm, lächelnd, löste die Schuhbänder, streifte die Schuhe von seinen Füßen, nahm den rechten Fuß in ihre beiden Hände. –Jona heißt er, der Prediger, wir kennen uns seit Jahren, er war einmal mein Lehrer, dann traf ich ihn auf der Straße, wild damals, verzweifelt. Als er anfing zu predigen – aber es ist ja keine Predigt! –, dachte ich, er sei verrückt geworden. Er zeigte auf einen der Zuhörer und sagte mir, ich solle ihn mit nach Hause nehmen. Er behauptet, daß man immer wieder Menschen trifft, die man lieben könnte, auch wenn es das Leben nicht zulasse, nur ein Zufall, sagte er, der uns nicht blind für diejenigen machen darf, denen wir Zuneigung entgegenbringen. Und ich gehorchte tatsächlich, ich weiß nicht warum. Mit Sex hat das nichts zu tun. Miriam lachte leise, ließ den rechten Fuß zu Boden gleiten, hob den linken in ihren Schoß. –Gleich koche ich dir eine Tasse Tee.
    Er saß auf dem Sofa, wach und schläfrig zugleich, sah auf das Bücherregal, die Fotos, auf das heitere Leben, das sie abbildeten, er sah Miriam, die ein Kind an ihre Brust drückte, strahlend den Fotografen anlachte und dabei das Kind neckte, das heller war als sie, grüne Augen hatte und ebenfalls glücklich aussah, übermütig, viel zu glücklich, dachte Jakob bedrückt, als wäre etwas in der Atmosphäre des Zimmers, das die Dauer dieses Glücks unmöglich machte. –Wer ist das? fragte er Miriam, als sie mit einer Teekanne und zwei Bechern ins Zimmer trat, –auf dem Foto?, und beobachtete, wie sie die Kanne, zwei Becher auf einem Hocker abstellte. Sie hatte einen kurzen Rock angezogen. –Mein Sohn Tim, sagte sie. –Unser Sohn, Jonas und mein Sohn. Wir waren verheiratet, aber nach ein paar Monaten verschwand er, ließ mich vor Sorge fast verrückt werden, schrieb einen einzigen Brief, der unleserlich war, weil er Wasser über die Tinte gekippt hatte, ließ nur den Schatten seiner Schrift als Lebenszeichen, und ich zog aus meiner Wohnung in Clapham aus, hierher.

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