Die Habenichtse: Roman (German Edition)
Tim kam zur Welt. Meine Eltern unterstützten mich, ich konnte sogar wieder studieren. Sie zog mit ungeduldigen, schmalen Händen an ihrem Rock. –Du hörst nicht zu, sagte sie, doch Jakob hörte sie nicht. Sie hockte sich vor das Sofa. Seine Hände zitterten wieder, seine Füße, sie zog seine Füße in ihren Schoß, streichelte sie. Aber Isabelle würde das nie tun, dachte er, sie scheute sich, in ihren Zärtlichkeiten war immer etwas Beiläufiges oder sogar Heimliches, als fürchtete man, einander oder sich selbst zu beschämen, aufzudekken, was verborgen bleiben sollte. Er schloß die Augen, spürte, wie Miriam ihm die Strümpfe auszog, jeden Zeh erst vorsichtig berührte, streichelte, er wollte sich aufrichten, aber etwas zwang ihn aufs Sofa zurück, etwas, das ihm das Herz zusammenpreßte und Tränen in die Augen trieb. Das Foto, dachte er, der kräftige Kinderkörper, der sich aus Miriams Armen wand, ungeduldig zappelnd, um gleich loszurennen, und er rannte, rannte, überglücklich und wild, über die regennasse Straße, der Asphalt gleißte im Abendlicht, Tim drehte sich um und winkte, was der Autofahrer nicht sah, denn er sah Tim nicht, sah nichts als das grelle Licht, spürte nur den Aufprall. Da bremste er. Jakob schauderte, etwas zersprang, sein Körper bäumte sich auf, er öffnete die Augen und starrte Miriam ungläubig an, streckte die Arme nach ihr aus, verwirrt von seiner Sehnsucht und seinem Kummer. Warum nur, dachte er wieder und wieder, wie kann sie es ertragen? War es so? fragte er sich. Er umarmte sie, das Zittern war anders jetzt, unauffälliger, wie ein dünner Stoff um seine Liebe und seine Bangnis, Erinnerungen mischten sich mit Miriams Geruch, mit dem Geruch des Juniregens in Hampstead Heath, er sah die beiden Männer, den jüngeren auftrumpfen, spotten, aber es war soviel Zärtlichkeit darin wie in der Geste, mit der ihn der ältere sorgsam trockenrieb. Während er Miriam an sich preßte, hoffte er, der ältere möge wirklich Bentham gewesen sein. Er wiegte sie und wußte, daß er gleich gehen müßte, weil sie es so wollte. Betäubt, gehorsam folgte er ihrem Signal, und als er das Haus verließ, achtete er nicht darauf, wo er gewesen war, lief blindlings, bis er eine Straße wiedererkannte, an den Kanal gelangte, dessen schwarzes Wasser faulig roch und träge dahinfloß, zum Park, zu der Voliere, deren Bewohner längst auf den Ästen, im Laub verborgen schliefen. Jakob paßte sich in die Dunkelheit ein wie in eine Decke, obwohl sein Herz heftig schlug, obwohl er seine Tasche mit feuchter Hand umklammerte, aufgelöst, fuhr es ihm durch den Kopf, und doch ging er ganz vernünftig an Camden Lock vorbei, bog rechts ein, achtete auf den Mann, der ihm entgegenkam, auf das Auto links von ihm, hörte die Bässe, die durch die geschlossenen Fenster dröhnten, hinter denen eine Frau saß, rauchend. Sie bremste, beobachtete ihn im Rückspiegel. Beschleunigte, ließ ihn zurück. Nur eine Bewegung des Fußes, ein winziger Moment, in dem sich entschied, ob man das Fenster öffnen, jemanden ansprechen wollte, eine ungeklärte Koppelung von Blick und Muskel. So wurde er gewogen und für zu leicht befunden. Überdeutlich nahm er alles wahr, er spürte seine eigenen Füße in den Schuhen, den Strümpfen, eine vertraute Reibung, und er blieb stehen, um sich an Miriams Hände zu erinnern, an ihre Finger, die sie zwischen seine Zehen geschoben hatte, an die Kuppe des Daumens, mit der sie die Nägel gestreichelt hatte, etwas murmelnd, das er nicht verstand. Es war ein winziges Stück Zeit, das sich nun zwischen sie drängte, bereit, sich auszubreiten, und plötzlich erschien ihm die Uhr, die er unter seinem Jackettärmel hervorschüttelte, wie eine Spieluhr, auf der winzige Figuren sich im Kreis drehten, Miriam und er selbst, Isabelle, Bentham, kreisend auf ihrer Bahn, und mitten unter ihnen der Tod mit einer Sense. –Nein, wir sehen uns nicht wieder, hatte Miriam gesagt, es sei denn, Jona will es so, sie hatte ihm zum Abschied zugewinkt, heiter, sogar liebevoll, als wüßte sie, was ihn erwartete, und wollte ihm Mut zusprechen.
Besitz, hatte Bentham gesagt, ist ein Modus des Verlustes, wir tun nur so, als verliehe er uns Stabilität und Dauer. Eigentlich ist es ein Spiegel der Vergänglichkeit, in den wir so unverwandt starren wie in die Spiegel in unseren Badezimmern – letztlich sieht man in beiden nur, daß wir älter werden und sterben, allerdings gibt es natürlich Momente von Schönheit, nicht wahr?
Weitere Kostenlose Bücher