Die Händlerin von Babylon
beschwerte sich Puabi über den En. »Inzwischen kommt er sogar ohne Gefolge. Hat der Tempel denn jede Würde verloren?« Sie schaute dem Alten ins Gesicht. »Hol mir Obst, ich habe Hunger.«
Shama verbeugte sich und verschwand.
Puabi hatte selbst behauptet, dass Shama taub sei; infolgedessen hatte er ihre Bitte gar nicht hören können. Außerdem brauchte Shama Zeit. Er musste dem En beibringen, wie die geheimen Tafeln zu lesen waren.
In einer dunklen, heißen Zelle kam Chloe zu sich. Ihre Lippe war aufgeplatzt, ihr eines Auge zugeschwollen, die Knöchel ihrer Hand waren blutverkrustet. Sie hatte sich mit Leibeskräften gewehrt, dennoch hatte sie der stämmige Bursche aus der Schule zusammen mit seinen erwachsenen Handlangern hierher geschafft.
Wo auch immer sie hier war.
Ningal würde sich ausrechnen, dass sie entführt worden war. Danach wäre es nicht schwer festzustellen, wie und von wem. Seltsam, dass dieser Bursche überhaupt gewagt hatte, sie noch einmal anzugreifen. Wieso er das Risiko wohl einging? Vielleicht ist er ja ein Idiot, überlegte sie. »Hallo?«, rief sie. »Hallo, kann mich jemand hören?«
Ningal würde sie schon finden.
Und Cheftu war der mächtigste Mann im Tempel. Wahrscheinlich hatte er sie gestern Abend besuchen wollen und nach ihr suchen lassen, als sie nicht zu Hause gewesen war. Man würde sie in Windeseile aufspüren.
Wie dumm von denen, sie nicht einmal zu knebeln. Sie würde einfach brüllen, bis jemand sie hörte.
Es sei denn, es gab keinerlei Hoffnung für sie.
Und wenn sie gar nicht mehr in der Stadt war?
Fast wie um ihren Gedanken zu bestätigen, hörte sie das lang gezogene Muhen eines Wasserbüffels. Ich bin nicht mehr in Ur, erkannte sie und ließ den Kopf sinken. Sie haben mich nicht vergewaltigt und auch nicht umgebracht oder gefoltert, warum also haben sie mich entführt?
Ob Cheftus eifersüchtige Freundin Puabi von mir erfahren hat? Hat sie mich wegschaffen lassen und lässt mich hier verrotten?
Nein, schließlich war es derselbe Junge gewesen, der sie unter den Palmen angegriffen hatte. Er musste Helfer gehabt haben, anders hätte er es nicht geschafft, eine langbeinige, reglose Frau vom Hintereingang zu Ningals Haus bis hierher zu karren. Er hat mir aufgelauert, erkannte sie. Er hat das alles geplant.
Woher hat er gewusst, dass ich auf diesem Weg und um diese Zeit aus der Schule kommen würde?
Warum nur, fragte sie sich wieder, warum nur?
Ihr Gefängnis war nicht hoch genug, um aufrecht darin zu stehen, und zu klein, um mehr als sechs Schritte zu tun. In ihrem Kopf blitzten Erinnerungen an Fernsehsendungen, Fotos auf. Kriegsgefangenenlager, Käfige mit gefangenen Soldaten. Berichte, wie die Gefangenen in Form blieben, wie sie sich geistig gesund hielten, zogen durch ihren Geist.
Wer half diesem Burschen?
Ningal war noch im Bett gelegen, als Chloe aufgebrochen war. Kalam war noch nicht eingetroffen. Der Tafelvater hatte sie heimgeschickt - eigenartig. Aber möglicherweise hatte er sich einfach nur fürsorglich verhalten.
Chloe legte sich auf den gestampften Lehmboden und machte sich daran, die Stärke der Ziegelmauern zu testen. Erst würde sie jeden einzelnen Ziegel prüfen, dann einen Plan schmieden. Und die ganze Zeit über würde sie überlegen, wer sie wohl in die Falle gelockt hatte.
Cheftu wusch sich gerade das Gesicht, als die Wandverkleidung in seiner Schlafkammer erbebte und dann zur Seite glitt. Staubbedeckt und hustend stand Shama vor ihm. Cheftu eilte ihm zu Hilfe. Denn Shama schob eine Karre, die bis zum Rand mit noch staubigeren Tafeln gefüllt war.
Er reichte Cheftu eine davon, nur um sie ihm sofort wieder abzunehmen und die Vorderseite abzuspülen. Daraufhin streckte er sie Cheftu erneut hin, der sie verwundert entgegennahm. Cheftu las die Aufschrift, die allerdings keinen Sinn ergab. Ganz offensichtlich war die Tafel uralt, und die Zeichen wirkten noch komplizierter, als sie es in dieser Epoche waren.
Shama berührte Cheftu am Arm und wies dann auf seine Kehle.
»Laut?«, fragte Cheftu.
Der Alte nickte begeistert.
»Meines männlichen Elternteils weiblichen Eltern teils zahmes Katzenwesen ist ein mächtiger Fänger vierbeiniger Feldnagetiere.« Der gleiche Satz über vier Zeilen. Was hatte das zu bedeuten? »Die Katze meiner Großmutter fängt viele Ratten?«, fasste Cheftu mit Blick auf Shama zusammen.
Der nickte nur lächelnd. Dann bedeutete er Cheftu, den Satz noch einmal zu lesen.
Stirnrunzelnd spürte Cheftu, wie seine
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