Die Händlerin von Babylon
die Sicht. Mochten die Götter die Frau namens Chloe segnen.
Chloe drehte sich nicht einmal um, das wagte sie nicht. Das Nepenthe sollte sie eigentlich vollkommen berauscht, weggetreten, gleichgültig machen. Nur dass ich vollkommen verkrampft bin, dachte sie. Die Frauen an ihrer Seite bewegten sich ganz ruhig und gelassen. Im Gegensatz dazu war Chloe kein bisschen ruhig. Trotzdem war sie guten Mutes. Cheftu war da. Sie würde hier rauskommen. Das hatte er ihr geschworen. Und Cheftu hatte sie noch nie im Stich gelassen.
»Dies hier ist nicht das tragische Schauspiel irgendeines englischen Dramatikers«, hatte er ihr im Tempel des Riesen versichert. »Was auch passieren mag, hab keine Angst. Dir wird nichts geschehen, wir werden uns finden und gemeinsam ein neues Leben beginnen.«
Sie dachte an die Abertausende von Historikern, die völlig aus dem Häuschen gewesen wären, dies mit anzusehen; das Volk der frühesten Schriftkultur in Aktion. Allerdings bezweifelte sie, dass auch nur einer von ihnen zurzeit gern mit ihr getauscht hätte.
Die Frauen, Soldaten und Diener wanderten einen langen, steilen Tunnel hinab, der nur von wenigen Fackeln erhellt wurde und über eine Rampe in die Hauptkammer führte. Wie befohlen hielt jede Frau an der Tür an und tauchte ihre Schale in den Kupferkessel, um dann ganz gesittet weiter in den Raum zu schreiten. Niemand sprach, nur die Klänge der Lautenspieler waren zu vernehmen.
Denkst du jetzt an deine Familie, überlegte Chloe mit Blick auf die Frau, die gerade an ihr vorbeischritt. Du nimmst an, du bringst dieses Opfer, um das Leben deiner Kinder zu retten, um ihnen eine Chance auf ein Leben in einer besseren Welt zu verschaffen. Chloe verstand das, sie konnte den Glauben der Frauen sogar nachvollziehen, trotzdem musste sie gegen ihr modernes Wissen ankämpfen, dass eine Sonnenfinsternis auf astronomischen Gesetzmäßigkeiten beruht. Ob wohl bei jeder Sonnenfinsternis Menschen in den Tod geschickt wurden?
Puabis Kammerzofen, genau wie Chloe mit ritueller Goldfarbe bemalt, durchquerten die Vorkammer und kletterten dann eine Leiter hinab in die eigentliche Begräbniskammer. Die übrigen Frauen ließen sich auf dem mit Matten ausgelegten Boden des Hauptraumes nieder. Der Lautenspieler schlug sein Instrument an, und die Priester ordneten die vordersten Reihen, um Platz für den von Ochsen gezogenen Schlitten zu machen. Noch zwei Frauen kletterten die Leiter hinunter. Jetzt bin ich dran, erkannte Chloe und kämpfte einen aufsteigenden Schrei nieder. Stattdessen verließ sie den Schlitten und ließ sich von einem Soldaten dabei helfen, die Leiter hinabzusteigen. Unten würde sich Chloe auf die Bahre legen, mit je einer Zofe zu ihrem Kopf, ihren Füßen und an ihrer Seite.
Sie tunkte ihren doppelbödigen Becher in das Gift und trat an die Bahre. Behutsam kletterte sie auf das Podest und setzte sich. Sie würde sich tot stellen müssen, bis die Priester zurückkehrten und die Ochsen töteten. Erst nachdem alle anderen aus dem Leben geschieden waren, würde Chloe wieder lebendig werden.
Sie beobachtete, wie sich die drei Kammerzofen umarmten. Ihre Mienen wirkten bereits gläsern. Ich bin so allein, dachte Chloe. Die Musik zog durch die Luft und dämpfte die Geräusche der sich setzenden Frauen, die ihr Geschmeide und ihre Leiber zurechtrückten. O Gott.
»Wir sind versammelt, Herrin«, rief ein Soldat ihr zu.
Jetzt kommt meine einzige Textstelle, dachte Chloe, und holte tief Luft. »Trinkt!«, rief sie dann aus.
Die Politiker und Priester hatten diese Geschichte so überzeugend dargelegt, dass die Menschen, die ihr Leben opferten, tatsächlich glaubten, sie würden sich auf eine kosmische Karawane zu den Göttern begeben, statt schlicht in den Tod zu gehen. Wie kann man das Eine tun, ohne gleichzeitig das andere zu tun, überlegte Chloe. Hatte sich auch nur einer von ihnen darüber Gedanken gemacht?
Auf dieses Kommando leerten alle ihre Becher und legten sich dann flach auf den Boden. Wie von Cheftu versprochen, sickerte das Gift durch das Loch im Boden von Chloes Becher weg. Bitte mach, dass alles klappt, flehte Chloe. Bitte, bitte, ich will noch nicht sterben. Irgendwo da draußen betete Cheftu jetzt ebenfalls, das wusste sie. Ningal hatte ihr erklärt, dass sie mindestens eine Viertel Doppelstunde, übersetzt also dreißig Minuten, eine leichte Betäubung verspüren würde, ohne aller-dings vollkommen bewegungsunfähig zu werden.
Sobald die Sonnenfinsternis vorüber wäre,
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