Die hässlichste Tanne der Welt (German Edition)
draußen.
15 . 51 Uhr Es ist meine Tochter mit Mann. Ich starre sie an, als sähe ich das Paar heute zum ersten Mal. Zumindest standen sie noch nie mit sooo großem Gepäck vor meiner Tür! Im wörtlichen Sinne. Man könnte meinen, sie wollten bei mir einziehen.
Bernd steht neben einer Umzugskiste, die die Aufschrift
Christbaumschmuck
trägt. In einer Hand hält er den alten gusseisernen Baumständer und in der anderen einen Tannenbaum, dessen lange, dürre Spitze über seinen Kopf ragt. Auch sonst ist der Immergrüne so krumm und schief und hässlich, dass er mühelos den ersten Platz bei
Deutschland sucht die hässlichste Tanne der Welt
belegen würde.
Auf Katjas grau-lila Mütze schimmern geschmolzene Schneeflocken und ihre Wangen glänzen rosig von der Kälte. Könnte aber auch aufgrund der Anstrengung sein, denn an ihrer Schulter hängt eine prall gefüllte Umhängetasche, und mit den Händen umklammert sie eine wuchtige Bratraine. Darin befindet sich eine nackte, noch ungebratene Gans, als wär’s ein armes Findelkind. Oder eine arme Findelgans.
«Was … ähm … soll das werden?», stammle ich verwirrt.
«Weihnachten muss bei dir stattfinden!», antwortet Katja, stampft kurz den Schnee von den Schuhen auf der Fußmatte ab und drängelt dann an mir vorbei. «Wir haben alles Nötige mitgebracht! Auch das Abendessen.»
Das sehe ich, dennoch kann ich es nicht glauben. Ich
muss
mich verhört haben. «Wie bitte?»
Bernd greift nach dem Baumständer, schiebt den Karton mit einem kräftigen Fußtritt vor sich her und entert mitsamt Krüppelbaum meinen Flur. «Wir hatten einen Stromausfall», informiert er mich keuchend.
«Wo?»
«Na, bei uns zu Hause», antwortet Katja kopfschüttelnd, als sei das logisch. «Irgendein depperter Nachbar musste seine neue Bohrmaschine unbedingt an Heiligabend ausprobieren, hat vermutlich eine Hauptleitung angebohrt und damit einen Kurzschluss in allen Wohnungen fabriziert …»
«Leider verfügt das Haus über kein Notstromaggregat», fährt Bernd fort. «Wir können also die Gans nicht vorbraten, beziehungsweise überhaupt kein warmes Essen zubereiten, und würden im kalten Zimmer sitzen müssen, denn die Heizung ist auch ausgefallen, da sie elektronisch gesteuert wird. Die paar Christbaumkerzen würden lediglich …»
«Aha», murmle ich abwesend und starre entsetzt auf den Fußboden, wo seine Schuhe Schneewasserpfützen hinterlassen, in denen Tannennadeln wie Froschlaich schwimmen. «Der nadelt ja, als wäre er hundert Jahre alt. Ihr wollt den doch nicht hier aufstellen?» Unwillig stemme ich die Fäuste in die Taille und blicke von Katja zu Bernd und wieder zu Katja.
«Also, Mama, welchen Teil von ‹Weihnachten muss bei dir stattfinden› hast du nicht verstanden?», entgegnet sie vorwurfsvoll. «Denk bitte an deine Enkelkinder, die freuen sich doch schon seit Tagen auf die Bescherung. Und die willst du ihnen doch nicht versagen, oder?»
Ach so,
meine
Enkel! Wie konnte ich die nur vergessen? Und wer denkt an mich? Ich will kein Weihnachten, keine Gans und schon gar keinen Krückentannenbaum in meiner Wohnung! Natürlich werde ich meinen geliebten Lausejungs nicht das Fest verderben, doch eigentlich würde ich viel lieber ausbüxen. Vielleicht nach Paris, mit einem gewissen Herrn Hirsch! Aber ich bin ja nur die olle Oma in der Weihnachts-Komödie, und deren Meinung interessiert eben nicht.
«Mamaaa!» Katja wird ungeduldig. «Lässt du uns jetzt endlich rein, oder sollen wir im Flur Wurzeln schlagen?» Sie hebt mir die Bratraine entgegen. «Die Gans muss ins Rohr.»
Ich trete zur Seite. «Wie, Gans für heute Abend?», frage ich geschockt, denn mit schwerem Gänsebraten und Knödel im Magen würde mir garantiert eine schlaflose Nacht bevorstehen.
«Nein, keine Panik», entgegnet sie, weil sie anscheinend meinen sorgenvollen Unterton gehört hat. «Aber du weißt, dass ich sie lieber vorbrate, um morgen Vormittag nicht in Superstress zu geraten.»
«Morgen wird der Strom sicher wieder fließen, dann findet das Essen wie geplant bei uns statt», erklärt Bernd weiter.
«Ach so, ja …», stammle ich erleichtert, nehme Katja aber zuerst die Raine ab und fixiere wortlos ihre Schuhe, die mittlerweile wie Bernds Treter ekelige Schmutzpfützen hinterlassen haben.
«Waren die Kinder brav?», fragt sie beim Ablegen des Mantels, unter dem ein edles rotes Wollkleid zum Vorschein kommt.
«Ja, wir haben uns die alte Weihnachtskassette …»
«Ohhh, diese
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