Die Häuser der anderen
selber höchstens Ende vierzig, es war ungerecht, dass es Frank getroffen hatte und nicht ihn. Und doch war sie, wie sie sich sagte – oder vielmehr vorwarf –, gar nicht so außer sich, wie sie es hätte sein müssen. Sie machte einfach weiter, stand und saß und redete und tat Dinge, Stunde um Stunde, bis abends. Sie hatte von älteren Verwandten, die verwitwet waren, unisono gehört, eine Beerdigung mache so viel Arbeit, dass man erst später zum Trauern komme, aber Franks Beerdigung hatte gar keine Arbeit gemacht; sie hatte bereits vergessen, was alles zu entscheiden gewesen war. Der Besuch des Gemeindepfarrers war kurz gewesen, seine Predigt dann wirklich persönlich und schön. Sie hatte ihm danach zwei E-Mails geschrieben, um sich zu bedanken, er antwortete auf beide ausführlich und bot ihr an, einen Kontakt zu irgendeiner Beraterin herzustellen, daraufhin hatte sie es gut sein lassen. Das ist also das soziale Netz unserer Stadt, hatte sie festgestellt, das waren jene Institutionen, von deren Arbeit sie bisher nur im Zusammenhang mit Mittelkürzungen in der Zeitung gelesen hatte. Das ist das Auffangnetz für Leute wie mich, Menschen, die fallen und dankbar für alles sind, was sie bremst. Der Pfarrer empfiehlt ein paar Gespräche mit der Caritas – meine Güte, die Caritas! Das ist wie die Mahlzeitenausgabe, die Suchtberatung, der Kleiderdienst: Institutionen, die so unauffällig existieren wie Regenschirme, die in allen Wohnungen dieser Stadt in den Ecken herumstehen und vergessen sind, solange die Sonne scheint.
Sie räusperte sich, weil sie bemerkte, wie Dr. Fischwasser sie beobachtete.
»Ich weiß, dass ich darüber – irgendwie – hinwegkomme. Muss – hinwegkommen muss –, meine ich. Aber es ist schwer, ich wollte Sie bitten, mir für eine gewisse Zeit etwas Stimmungsaufhellendes zu verschreiben. Ich verkrieche mich so.«
Sie war sich sicher, dass sie sehr vernünftig klang.
»Es ist gut, dass Sie das selber so sehen.« Er nickte vor sich hin. »Haben Sie Kinder?«
»Nein«, sagte sie.
Sie dachte: Wir haben eine Hündin. Kitty. Sie sitzt draußen und wartet auf mich.
Er tippte etwas in den Computer, Tavor, eine ziemlich starke Dosierung, wie er sagte. Er machte außerdem eine ganze Reihe Bemerkungen über extreme Krisensituationen im Leben eines Menschen, aber die rauschten an ihr vorbei.
Sie bedankte sich und war schon aufgestanden, da sagte er noch: »Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
Nein, dachte sie.
»Setzen Sie sich jeden Tag eine Stunde in sein Zimmer. Genau eine Stunde, nicht mehr und nicht weniger, und erinnern sich an ihn. Bewusst , meine ich, mir ist klar, dass Sie sich den ganzen Tag über erinnern. Ein fester Termin, vielleicht jeden Abend um fünf.«
Nein, dachte sie wieder. Aber sie nickte lediglich und ging. Als sie bei der Sprechstundenhilfe ihr Rezept abholen wollte, drängte ein rotgesichtiger Mann Dorothee zur Seite, um der Frau mitzuteilen, dass vor der Tür ein Hund liege, der krank aussehe.
»Das ist meiner. Wir gehen schon«, sagte Dorothee unfreundlich und nahm eilig an dem Dicken vorbei ihr Rezept entgegen.
Kitty war vor der Tür eingeschlafen; Dorothee kniete sich hin und weckte sie sanft. Sie war eine verdammt alte Hündin, und die Tatsache, dass Dorothee sie unbedingt zu ihrer Unterstützung bei diesem Arzttermin hatte dabei haben wollen, hatte sie eine Stunde langsames Gehen gekostet. Kitty war viel zu schwer, um sie zu tragen, und da die Hündin selbst am meisten unter ihrer Schwäche litt, tat sie Dorothee unendlich leid. Früher war sie so schnell und stolz gewesen, sie wurde niemals müde, spazieren zu gehen oder etwas zu bewachen. Jeden Auftrag, den Frank ihr gab, versuchte sie bestmöglich auszuführen. Ja, Kitty war in jeder Hinsicht ein überlegener Charakter. Wenn Frank sie lobte, war sich Dorothee oft nicht sicher gewesen, ob er damit nicht in Wirklichkeit sie, Dorothee, hatte tadeln wollen.
»Ein Schäferhund-Labrador-Mischling, so ungefähr das Anstrengendste an Hund, das du dir vorstellen kannst«, hatte ihr Frank erklärt, als er gestand, er lebe nicht allein. Dorothee hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Erfahrung mit dem Zusammenleben und genauso wenig mit Hunden gehabt und war einfach erleichtert gewesen, dass es sich bei »Kitty« nicht um eine Frau handelte. So erleichtert, dass sie lange nicht begriffen hatte, dass Kitty durchaus eine ernstzunehmende Rivalin darstellte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte sie sogar
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