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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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dachte er, träume ich noch und werde gleich aufwachen, weil mich die Blase drückt. Sollte er vorsichtshalber gleich aufs Klo gehen? Aber wenn er doch noch schlief, würde er dann nicht ins Bett machen? Wie schön der Garten war, vor allem um das Brennholzhäuschen herum, das er neben den Dahlien aufgestellt hatte und mit dem er Berts und sein Revier markierte. Er wartete; nichts geschah. Er war wach und wirklich im Garten. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte nicht, er ließ sie fallen. Setzte sich mitten auf dem Rasen hin, halb auf die Knie wie zum Beten, weil er plötzlich Schmerzen in seinem kaputten Bein bekam, wirklich schlimme Schmerzen, die er, der schon bei einem Mückenstich ein Schmerzmittel nahm, nicht gewohnt war. Das machte ihm Angst, und die Angst wiederum schnürte ihm den Atem ab. Ein Herzanfall, dachte er. Er sah an seinen dicklichen Knien in der abgeschabten Jeans vorbei auf ein paar Büschel Gras ohne Unkraut dazwischen. Für wen, verdammt noch mal, rackerte er sich eigentlich ab? Die Welle von Hass, die er spürte, war seine Rettung: Der Schmerz nahm ab. Hass war sein natürliches Gefühl, das Gefühl, das ihm guttat. Nichts tat ihm mehr weh, wenn er im Hass schwelgte. Es sieht niemand, empörte sich Herwig innerlich, was ich hier im Garten leiste, dass es der schönste Garten ist in dem ganzen verdammten Snobviertel. Und weit darüber hinaus. Meine Dahlien machen jedem europäischen Dahliengarten Konkurrenz.
    Selbst Bert war es nicht mal aufgefallen, dass er in der letzten Zeit plötzlich behauptet hatte, lieber fernzusehen als neben ihm im Garten zu sitzen, weil er die Abendgeräusche von Mirjam und Sven nicht hatte hören wollen – abends ging es erst richtig los mit dem Kochen und Musikhören und, ja, sie schienen dauernd Sex zu haben. Er sah die Schokoladenstückchen an, dachte an die Pitbulls und Berts feuchte Hände, der das Zuckerzeug lieber selber gegessen hätte, die unterdrückte Gier in seinem Gesicht, als er ihm widerwillig beim Zerteilen geholfen hatte. Sven war weg, und Herwig Emmermann war wieder allein. Sogar unerträglich allein, denn ihm fiel ein, dass er nicht einmal Bert sein Leid klagen konnte – der würde den Auszug befürworten und sich nur über die Schokoladenverschwendung ärgern. Er stellte sich Eisens feuchte, spitze Lippen vor, das Kussmündchen, das er immer machte, wenn er Süßes aß, sein dämlich verzücktes Grinsen dabei. Herwigs Knie taten jetzt beide weh, aber er blieb in seiner unbequemen Position hocken. Er begann, sich systematisch ein Stück Schokolade nach dem anderen in den Mund zu schieben, und es, kaum zerkaut, zu schlucken. Aber zu kauen war nicht wichtig, nichts war mehr wichtig in einer Welt ohne Bedeutung. Er saß da wie ein Hund und fraß einfach. Er war ganz bei sich. Es schmeckte gut.

Hundeträume
    S echs Wochen und fünf Tage nach Franks Tod ging Dorothee das zweite Mal in ihrem Leben zu Dr. Fischwasser. Während sie im Wartezimmer saß – auf, wie sie glaubte, genau dem gleichen Stuhl wie vor zehn, nein elf Jahren –, erinnerte sie sich vage daran, wie neugierig sie die vermeintlich »Verrückten« um sich herum beobachtet hatte, als sie das erste Mal hierhergekommen war, und wie enttäuscht sie sich damit abgefunden hatte, dass es einfach Leute waren, die sich hinsetzten und eine Zeitschrift nahmen und zu lesen anfingen. Es war nicht anders als beim Zahnarzt. Sie hatte zwei Stunden gewartet, und dann hatte sich herausgestellt, dass alles umsonst gewesen war. Der Psychiater hatte ihr kein Medikament verschrieben, sondern ihr klargemacht, dass er für eine überspannte Philosophiestudentin weder Zeit noch Interesse aufzubringen gedächte.
    Damals war Dorothee wütend aus der Praxis gerauscht; inzwischen sah sie einiges anders. Durch das jahrelange Zusammenleben mit dem ausgeglichenen Frank – und zum Teil wohl auch einfach durch das Älterwerden als solches – hatte sie gelernt, wie man sich dazu disziplinierte, auch im größten emotionalen Chaos die Dinge immer mal wieder aus der Perspektive eines Außenstehenden zu betrachten. Es war reine Übungssache. Schon bald begann sie, sobald sie sich am Rand einer Katastrophe wähnte, sich automatisch die einfache Frage: »Ist das wirklich so schlimm?« zu stellen. Und natürlich war selten etwas wirklich schlimm ; alles war eine Frage des Maßstabs. Dorothee hatte Frank kurz nach dem ersten Termin bei Dr. Fischwasser kennengelernt. Sie hatte in dem gar nicht so kleinen

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