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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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Kreis ihrer Freunde in der Mensa gesessen und das ungenießbare Essen vor sich kalt werden lassen und geredet, und alle hatten an ihren Lippen gehangen und fanden diesen Dr. Fischwasser grässlich, in Anbetracht der Tatsache, unter welchen Depressionen die arme Dorothee litt. Alle außer Frank. Der hatte erwidert, sie sollte froh sein, dass sie nicht an so einen Scharlatan geraten sei, der eine Notlage ausgenutzt hatte, um sie medikamentensüchtig zu machen. Er hatte von vornherein so eine Art gehabt, ihr zu widersprechen, die sie als Herausforderung empfand, und er sah mit seiner schlaksigen, jungenhaften Erscheinung umwerfend gut aus.
    Später erfuhr sie, dass er nur in der Mensa gegessen hatte, weil er mit ein paar Sportstudenten befreundet war; er arbeitete als Fitnesstrainer. Sie hatten erst beide gedacht, sie wären ein One-Night-Stand füreinander, aber aus der Nacht wurde eine Beziehung und schließlich die Ehe. Dorothee fand es heute noch merkwürdig, wie sie beide es geschafft hatten, sich trotz aller Vorbehalte so aufeinander einzulassen. Er war doch, eigentlich, immer zu praktisch und zu simpel-lebenslustig für sie gewesen, nicht philosophisch genug für sie mit ihren schwarzen Rollkragenpullovern und den vielen starken Zigaretten. Aber dann war ihr aufgefallen, dass sie eigentlich recht wenig mit den Theorien und Seminaren anfangen konnte, dass nur ein paar Fernsehfilme, unter anderem über Simone de Beauvoir und Sartre, sie beeinflusst hatten. Ja, Frank und sie waren glücklich gewesen. Dorothee sogar so sehr, dass sie mit dem Rauchen aufhörte und zugab, dass Rollkragen sie am Hals unerträglich kratzten, selbst wenn sie ihr standen.
    Nun war es eine Zeit, die nicht wiederkam und an die sie sich auf einmal nur noch sehr schwer erinnerte, als ob all die Jahre zwischen ihrem Kennenlernen und dem plötzlichen Tod weggewischt wären. Es war, als wäre ihr Leben mit Frank ein Traum gewesen – viel zu intensiv und liebevoll, um wahr zu sein. Als hätte es ihn lediglich als ihr eigenes Wunschbild gegeben. Dorothee spürte wieder, wie ihre Augen nass wurden. Aber sie wusste, dass sie nicht weinen würde; das Weinen hatte schon vor einiger Zeit aufgehört. Sie saß sehr aufrecht, den Blick auf die Zeitschrift vor sich auf dem Schoß geheftet – es war nicht wichtig, welche. Auf einmal hörte sie ein Husten, sah auf und bemerkte überrascht, dass eine junge Frau sich ihr gegenübergesetzt hatte. Sie hatte sie angestarrt und sah jetzt verlegen weg. Dorothee konnte sich gut vorstellen, dass sie, genau wie Dorothee damals, gerade überlegt hatte, ob die andere Patientin, die immer nur auf dieselbe Seite eines Magazins starrte, wohl eine echte »Verrückte« wäre. Die Frau war sehr hübsch. Dorothees Gedanken wanderten wieder zu Frank. Ob er in all der Zeit eine Affäre gehabt hatte? Und wenn ja, würde es ihr etwas ausmachen, wenn es eine temporäre Sache gewesen wäre, sagen wir, ein, zwei Abende oder Nächte? Es ist mir so was von egal, sagte sich Dorothee. Wenn er nur wieder da wäre; er könnte die ganze weibliche Kundschaft in seinem Fitnessclub beglücken. Sie hörte, wie ihr Name aufgerufen wurde, stand wie an Schnüren gezogen auf und verließ das Wartezimmer.
    Sie meinte, Dr. Fischwasser als Mann fortgeschrittenen Alters kennengelernt zu haben, aber der Arzt sah eigentlich nicht so alt aus, als dass er bereits vor über zehn Jahren väterlich auf sie gewirkt haben konnte. Zu ihrem Erstaunen besaß er noch ihre frühere Karteikarte – wurden die nicht irgendwann vernichtet? –, faltete sie auseinander und studierte, die Stirn runzelnd, seine Notizen. Ohne aufzusehen fragte er: »Na, wo drückt der Schuh?«
    Guter Ausdruck, dachte sie und sah auf ihre gefütterten Winterstiefel. Die schönsten Kleidungsstücke, die sie besaß, hatte Frank ihr geschenkt, diese Schuhe nicht. Niemals Schuhe, da war er abergläubisch. »Kaufst du einer Frau Schuhe, läuft sie dir darin weg.« Endlich erinnert mich einmal etwas nicht an ihn, dachte sie.
    Wie paradox diese Aussage war, fiel ihr im selben Moment auf. Dr. Fischwasser wiederholte seine Frage.
    »Mein Mann hatte vor einigen Wochen einen Motorradunfall. Am 24. September. Er ist gestorben. Er war 42.«
    Der Psychiater schaute von der Karteikarte auf. Für einen Augenblick meinte sie, Anteilnahme in seinen Augen zu sehen. Vielleicht dachte er auch nur an seinen eigenen Tod. Es hieß ja, die Leute täten das, warum nicht auch professionelle Berater? Er war

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