Die Häuser der anderen
nachdem sie nachts kurz wach geworden war und sich am Waschbecken den Nacken und das Gesicht nass gespritzt hatte, um danach gleich zurück zum Bett zu schwimmen. Die Hündin sah kurz zu ihr hoch und schlief wieder ein. In dieser Nacht, benebelt vom Tavor, kniete sich Dorothee neben sie und sah ihr beim Schlafen zu. Kitty atmete tief und gleichmäßig, unterbrochen von einzelnen Seufzern, die fast zufrieden klangen. Der Körper der Hündin lag im Dämmer des Flurs seitlich ausgestreckt da, als wäre sie umgefallen. Dorothee sah, dass Kitty – die inzwischen so bewegungsfaul gewordene Kitty – immer noch träumte und dabei mit den Pfoten ruderte, als ginge sie jagen. Es war erstaunlich: Selbst kurz davor, eingeschläfert zu werden, träumte sie immer noch vom Laufen und Jagen, wie sie es als Welpenmädchen, das sie einmal gewesen war, so gern getan hatte. Der Traum ist all das, woraus du erwachen kannst, wer hatte das noch einmal gesagt, Paul Valéry? Dorothee blieb ganz still in der Hocke sitzen, lauschte dem Atem des Tiers und sah der nächtlichen Jagd zu. Nach einer Weile entfuhr Kitty ein Laut, und Dorothee erschrak. Es schien ihr, als wäre dieser Schlaf der Hündin ungewöhnlich, fast bedrohlich tief, als wäre er an einer Grenze angesiedelt – die Vorbereitung auf den unendlichen Schlaf, in dem sie über weite, grenzenlose Hundewiesen laufen würde, die unvergleichlich besser dufteten als alles, was sie bisher gekannt hatte. Die wie eine Essenz ihrer geliebten Personen, nach Frank und Dorothee, rochen – ja, vielleicht ein bisschen auch nach mir, dachte Dorothee. Sie stellte sich vor, wie die Jahre von nun an vergehen würden. Sie würde allein sein und Wege finden, damit zurechtzukommen. Das war es jedenfalls, was alle sagten, und sie war keine schwache Person, nie gewesen, nicht schwächer als alle anderen, nicht wahr? Sie würde nicht viel Aufhebens machen, sondern weiterhin ihre Arbeit in der Schreinerei erledigen, die irgendwo zwischen Handwerk und Kunst angesiedelt war und die sie immer als sehr erfüllend empfunden hatte – etwas mit den Händen tun, etwas, das man dann sah, das fertig vor einem stand. Sie würde länger in der Werkstatt bleiben als früher und spätabends eine einfache Mahlzeit zu sich nehmen. Dann würde sie fernsehen – sie würde keine Romane mehr lesen und auch keine Musik mehr hören, es war zu sehr mit Gefühlen verbunden. Sie würde die seichten Fernsehschicksale an sich vorbeiziehen lassen, und jeder Tag wäre gleich. Dorothee fragte sich, ob sie das wollte, so leben wollte. Sie sah auf die Uhr, es war sechs, und nur deshalb noch dunkel, weil es November war. Noch vor zwei Monaten wäre sie jetzt aufgestanden, aber so sah sie keinen Grund zur Eile. Keinen Grund, einem Tag nachzujagen, der sie längst überholt hatte. Genau genommen hatte das ganze Leben sie überholt, sie und ihren kranken Hund. Es hatte die Vorspultaste gedrückt und war am Ende angelangt, während sie noch irgendwo im Mittelteil herumtrudelte.
Es war zufällig fünf Uhr nachmittags, als sie mit Kitty von den Hundewiesen heimkam, und Dorothee beschloss spontan, dem Rat des Psychiaters zu folgen und eine Stunde in Franks Zimmer zu sitzen. Es war das erste Mal, dass sie länger als für einen der kurzen Suchspiel-Momente dablieb, und auch früher hatte sie Frank kaum in seinem Arbeitszimmer besucht, da er, als Jugendlicher mit einer indiskret herumschnüffelnden Mutter geschlagen, geradezu absurd großen Wert auf seine Privatsphäre gelegt hatte. Schon bald nach ihrem Zusammenziehen hatte Frank Dorothee gebeten, nicht in seinen Schreibtischschubladen zu kramen, auch dann nicht, wenn sie nur Tesafilm oder eine Schere suchte. Dorothee, die sowieso kein Bedürfnis verspürte, in fremden Schubladen zu stöbern, setzte sich jetzt auf die Couch und sah sich um. Ja, hier waren sie immer noch, seine Sachen, genau so hingelegt, wie er es für richtig befunden hatte, Dinge, die er berührt hatte. Bilder, die er aufgehängt hatte, seine Plastiktüten mit speziell geordneten Papieren darin, es ging um seine Arbeit. Irgendwann würde sie die Tüten samt Inhalt wegwerfen, und Frank würde alle Geheimnisse für immer behalten. Es war Ehrensache, auch wenn sie sich fragte, ob sie jemals die Kraft haben würde, die Tüten auch nur anzuheben.
Sein Zimmer hat so gar keine Atmosphäre von Verlassenheit, sagte sich Dorothee verwundert, und das gefiel ihr. Eine Stunde hierzubleiben fiel ihr nicht schwer und stimmte sie
Weitere Kostenlose Bücher