Die Haischwimmerin
davon wisse. Aber die Madame verneinte.
Ivo schlug vor: »Wie wäre es, wenn wir uns den Baum mit dieser Nummer einmal ansähen?«
Richtig, Ivo Berg wollte endlich in den Wald. Und als man nun tatsächlich aufbrach, fragte er, als schreite man durch eine Kirche: »Darf ich Photos machen?«
»Nein«, antwortete Fontenelle. »Und noch was. Schlagen Sie es sich aus dem Kopf, auch nur ein Stück Rinde mitzunehmen. Die Schatulle von mir aus, Diamanten oder was Sie da finden werden, aber die Lärchen bleiben unangetastet. Da gibt es keine Ausnahme. Sie sind hier, um die Pracht und den Zweck dieses Waldes zu schauen, um zu begreifen. Wenn Sie aber nicht begreifen wollen, schicke ich Ihnen alle Teufel auf den Leib.«
Ivo dachte an Killer, aber Fontenelle meinte es, wie sie es sagte. Dabei war sie ein aufgeklärter Mensch, der aufgeklärteste von ganz Toadâs Bread. Aber auch »alle Teufel«, die sie kannte, waren aufgeklärt.
So begab sich die kleine Familie ins Reich der Fliegenpilze, wobei die Madame eine Nachricht für Dr. Ritter zurücklieÃ, in der sie ihm beschrieb, welche Stelle des Lärchenwaldes man aufzusuchen gedachte.
Der Sommer glühte. HeiÃes Licht, das im Schatten brach. Pfeifende Vögel. Bäume, die noch nie einen Arzt gesehen hatten und auch nie einen brauchen würden. Das begriff Ivo. Er war hier nicht als Pfleger, sondern als Besucher. Man bewegte sich langsam, damit auch Kallimachos folgen konnte, der sich bei Galina untergehakt hatte.
Es war ein langer Weg hinein in den inneren Bereich des dichter werdenden Waldes, dort, wo die Spiralarme Seite an Seite standen, nur noch getrennt durch schmale Pfade. Manchmal sah man in der Ferne eine der Pflückerinnen. Mit ihren Körben und ihren Kopftüchern verstärkten sie noch den Eindruck, man spaziere mitten durch einen Märchenwald. Ja, in solcher Umgebung hätte sich das Erstaunen selbst dann in Grenzen gehalten, wäre da mit einem Mal ein sprechender, Kreide fressender Wolf um die Ecke gebogen.
Doch ohnehin gab es hier keine groÃen wilden Tiere, dafür diverse Nager, die üblichen Insekten, viele Gefiederte. Immer wieder blieb die kleine Gruppe stehen, damit der GroÃe Grieche durchschnaufen konnte. Aber man schaffte es. Gegen vier Uhr erreichte man jenen bestimmten Baum, der wie alle anderen über eine kleine, silberne Plakette mit seiner Nummer verfügte: viertausendsiebenhundertachtzehn. Ein Baum unter vielen, in keiner Weise auffällig. Auch war da keine Schatulle sichtbar plaziert. Keine Stelle am Boden, an der etwas vergraben schien. Keine in den Stamm eingelassenen Schubladen. Keine Wächter, kein goldener Schein, sondern ein Baum als Baum, obligat purpurn.
Man setzte sich ins Gras. Der Boden besaà die Wärme einer von Kinderkörpern angeheizten Bettdecke, um jetzt nicht von Klobrillen zu sprechen, auf denen kurz zuvor noch jemand anders gesessen hatte.
Ivo aber blieb stehen, betrachtete die hohe Lärche, drehte sich dann zu Fontenelle und meinte, er würde gerne auf den Baum steigen.
»Wozu?«
»Ich sagte Ihnen, daà es mein Beruf ist, mit Bäumen zu sprechen.«
»Meinen Sie, er verrät Ihnen, wo die Schatulle sich befindet?«
»Lassen wir es doch darauf ankommen«, schlug Ivo Berg vor.
»Wenn Sie einen Ast abknicken â¦Â«
»Ich habe noch nie einen Ast abgeknickt.«
Fontenelle betrachtete die unverkennbar leichtgewichtige Gestalt Ivos, den schwebenden Charakter seiner attraktiven Knöchrigkeit, den Flügelschlag seiner traurigen Augen ⦠Mein Gott ja, der Mann sah wirklich so aus, als könnte er über eine Wiese schreiten, ohne einen Halm umzutreten. â Fontenelle nickte ihm zu.
Ivo tat einige Kügelchen Arsenicum album auf seine Zunge, deren Auflösung er mit geschlossenen Augen begleitete. Solcherart gestärkt, holte er ein paar leichte Kletterschuhe, zwei Seile und einen Gurt mit Karabinern aus seiner Tasche. In neuer Ausrüstung trat er nahe an den Stamm heran. Er legte eine Fingerkuppe auf die Rinde, wie er dies auch praktizierte, wenn er sich an die eigene Narbe griff. Dabei bewegte er die Lippen und fügte ein paar Sätze geräuschlos, aber für den Baum verstehbar in die Luft: »Hör zu, alter Knabe, ich werde dich nicht länger belästigen als nötig. Wenn ich weiÃ, was ich wissen muÃ, kann ich dich wieder in Frieden lassen. Ich bin
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