Die Haischwimmerin
nicht hier, um dir was abzuschneiden.«
Aber der Baum widersprach, er sagte: »Weder alt noch Knabe.« Und weiter: »Woher willst du wissen, ob es nicht nötig sein wird, mir was abzuschneiden, um an die Schatulle heranzukommen?«
»Oha, du weiÃt also von der Schatulle?«
»Warum sonst wärest du hier?«
»Ich komme jetzt hoch, okay?«
»Mit welchem Recht?«
»Ich bin Baumpfleger. Das Klettern gehört dazu.«
»Ich brauche keine Pflege.«
»Ich weiÃ. Aber ich muà ein Bild erfüllen. AuÃerdem fühle ich mich wohler, wenn ich nicht blöd auf deinen Wurzeln herumstehe.«
»Lieber blöd zwischen meinen Ãsten, gell!«
»Ja«, sagte Ivo.
Nicht, daà der Baum jetzt ein »Meinetwegen!« von sich gab, er sprach ja nicht wirklich, sondern legte seine Gedanken in Ivos Kopf ab. Wie das übrigens auch Tiere tun, vor allem jene, die als Haustiere sich den Menschen verständlich machen müssen. Wobei es freilich unter den Tieren wie den Bäumen die Gescheiten und die Blöden gibt.
Der Baum mit der Nummer viertausendsiebenhundertachtzehn schien eher zu den Gewitzten zu gehören. An Ivo gerichtet, meinte er: »Ich hoffe, du bist keiner von denen, die sich einbilden, man könnte Bäume analysieren.«
»Ich will nur reden.«
»Sagte der Gartenzwerg, bevor sich herausstellte, daà es sich bei ihm um eine getarnte Motorsäge handelte.«
»Vermutest du hier irgendwo eine Motorsäge?« fragte Ivo.
»Es mag dir übertrieben erscheinen«, äuÃerte der Baum, »aber die meisten der menschlichen Antlitze schauen mir so aus. Diese gewisse kettenartige Verbissenheit. Als wollte das menschliche Gesicht sich in allem und jedem festbeiÃen.«
»Du redest so, als hättest du schon Hunderte von Menschen gesehen.«
»Ein paar waren es schon.«
»Haben die auch mit dir gesprochen, so wie ich?«
»Du meinst, ich muà mich geehrt fühlen, weil du mich mit âºalter Knabeâ¹ anredest?«
Statt darauf zu antworten, sagte Ivo Berg: »Ich fange jetzt an.«
Der Baum stöhnte. Aber es war ein theatralisches Stöhnen, als stehe gleich gegenüber das Fernsehen, um einen Bericht über neue Bäume zu drehen.
Ivo warf mit routiniertem Schwung eine Schnur in die Höhe, die sich um eine der mittigen dicken Astgabeln wand und deren Vorderteil dank des Gewichts eines angebrachten Wurfsacks wieder nach unten rutschte. Ein Kambiumschoner gewährte der Rinde einen gewissen Schutz vor der Reibung, die sich nun zwangsläufig ergab, nachdem Ivo mit Hilfe der Schnur das Kletterseil installiert hatte und jetzt begann, mit den FüÃen sich festklemmend, behutsam nach oben zu steigen. Es wirkte ungemein einfach, wie er sich da aufwärtsschob, tief in das Innere des Baums dringend, hinein in ein Schattenreich, wo Flecken von Licht verloren schwebten.
Ivo fand Platz auf einer massiven Astgabel. Sodann bewegte er sich ein wenig aus dem Zentrum heraus, sah sich einzelne der jungen, purpurroten Zapfen an und hielt seine Nase darüber. »Die riechen ja gar nicht.«
»Und ob die riechen«, gab der Baum zurück.
»Nein, ich meine, nicht so, wie sie sollten.«
»Wie sollten sie denn?«
»Penetrant, in der Art von Exkrementen. So steht es in meinem Bericht.«
»Was ich gehört habe«, erzählte der Baum, »steht viel in den Berichten der Menschen, was sich nicht mit den Realitäten deckt. Wie sagt ihr dazu: Literatur?«
»Literatur ist etwas anderes.«
»Inwiefern?«
Richtig, es war absurd, auf einem Ast sitzend, einem Baum den Unterschied zwischen den Lügen der Literatur und den Lügen aus Berichten und Gutachten zu erklären. Ivo rettete sich, indem er Stevenson zitierte, der den Roman ein Kunstwerk nannte, »weniger aufgrund seiner unvermeidlichen Ãhnlichkeiten mit dem Leben, sondern vielmehr aufgrund der unermeÃlichen Unterschiede, die ihn vom Leben trennen«. Der wissenschaftliche Bericht hingegen, so Ivo, müsse eigentlich die unermeÃlichen Unterschiede zum Leben auf ein Minimum reduzieren. So die Theorie. Daà freilich in der Praxis Gutachten existierten, die sich in scharfer Konkurrenz zur Erfindungsgabe der Literatur befanden ⦠nun, das war allgemein bekannt und führte dennoch immer wieder zur Verblüffung jener, die sich an Gutachten, an Berichten und Kommentaren orientierten, um
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