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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Ausrichtung des Landes dokumentierte. Dem Körper fehlten nicht allein die Arme auf Höhe der hochgezogenen Schultern, sondern ebenso die Füße. Wobei die Arme abgebrochen, die Füße jedoch abgeschnitten aussahen. Das Gesicht selbst, sein Ausdruck, war weder leidend noch von Müdigkeit gezeichnet, eher konnte man meinen, dieser Schmerzensmann betrachte einen weit entfernten Punkt. Allerdings keinen jenseitigen Punkt, sondern so, wie wenn jemand durch eine Flucht von Räumen schaut, an deren Ende sich etwas ereignet, er aber nicht sagen kann, was eigentlich.
    Â»Ein schöner Christus«, kommentierte Lilli, so wie sie zuvor den Schnee gelobt hatte.
    Der Notar erklärte, es handle sich um die Kopie einer mittelalterlichen Plastik, geschaffen von einem berühmten Münchner Hofbildhauer, von dem es auch einige Arbeiten in der örtlichen Stiftskirche zu sehen gebe. Doch bei aller Liebe zum Rokokostil, der Heiland komme im Mittelalter einfach besser zur Geltung als in Zeiten staats- und kirchentragender Üppigkeit.
    Â»Frau Kuchar mochte diese Figur ebenfalls«, sagte der Notar, somit den Namen von Lillis Großtante zweiten Grades aussprechend, die man angesichts der Situation durchaus als »Erbtante ersten Grades« hätte titulieren können. Der Notar fügte an: »Sie war eine ausgesprochen gebildete Frau. Allerdings auch ein wenig streitsüchtig, wenn Sie erlauben, daß ich das so ausdrücke.«
    Â»Wollen Sie mir damit sagen, sie sei unbeliebt gewesen?«
    Â»Eher gefürchtet. Sie sind ihr ja nie begegnet, nicht wahr?«
    Â»Niemals«, bejahte Lilli.
    Â»Sie war bis zum Schluß höchst vital und höchst beeindruckend«, beschrieb sie der Notar. »Mit siebzig noch bildschön. Eine echte Persönlichkeit. Sie hatte eine Meinung, und die Meinung hat sie vertreten. Es war so ihre Art, Wahrheiten auszusprechen, die man eigentlich nicht aussprechen darf, will man nicht als unhöflich gelten. Gleichzeitig kann man nicht sagen, sie wäre je ausfallend oder ungerecht gewesen. Das war eben das Paradoxe, diese souveräne Freundlichkeit, mit der sie etwas Unerfreuliches unter die Leute getragen hat.«
    Â»Können Sie mir ein Beispiel geben?« fragte Lilli.
    Â»Ich weiß nicht, ob ich …«
    Â»Seien Sie einfach so nett. Als Einstimmung auf das Erbe.«
    Der Notar seufzte tonlos, den Mund zu einem kleinen Spalt geöffnet, in dem sich kurz eine speichelige Wand gebildet und den Notarsmund versperrt hatte. Die Haut platzte, und der Notar begann davon zu erzählen, wie Marlies Kuchar kurz nach dem Tod ihres Mannes ein Mädchen bei sich aufgenommen hatte. »Die Tochter einer wichtigen Persönlichkeit unserer Stadt«, erklärte er. »Das Mädchen war schwanger. Offenkundig war es eine unwillkommene Schwangerschaft, unwillkommen für die Eltern des Mädchens. Man erzählt sich allgemein, Marlies habe die junge Frau dazu überredet, das Kind auszutragen. Aber ich denke, Überredung war dazu wenig nötig. Es war einfach so, daß Marlies der werdenden Mutter Schutz angeboten hat. Schutz und Obhut und Wärme. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ungern das gesehen wurde. Aber das Mädchen war volljährig, bekam ihr Kind, ging später nach Ulm, noch später ins Ausland. Sie soll eine glückliche Frau geworden sein. Was wenig zählt, wenn jemand anderswo glücklich wird. Eher ist es eine Beleidigung für den Ort. Vor allem für die Eltern, die alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt haben. Doch diese Hebel haben Marlies nicht beeindrucken können. Sie war resistent gegen Hebel. Zudem juristisch versiert, was ja nicht gerade ein Nachteil ist, wenn man die Welt ein bißchen verbessern möchte, ohne gleich im Gefängnis zu landen.«
    Â»Dann freut es mich«, sagte Lilli, »in das Haus einer solchen Frau ziehen zu können.«
    Dabei ließ sie unerwähnt, selbst schwanger zu sein und wie sehr somit alles sich perfekt fügte. Das Kucharsche Haus als Geburtsstation. Freilich war Lillis Schwangerschaft noch nicht zu sehen, hatte man keinen Blick dafür. Und ein solcher fehlte dem Notar.
    Aber er hatte einen anderen. Er sagte: »Ich will und darf Sie nicht beeinflussen, aber rechnen Sie damit, daß man Ihnen in Giesentweis … na ja, leicht reserviert begegnen wird. Jedenfalls mit Vorsicht. Ich will nicht behaupten, die Menschen hier seien

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