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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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gehen. Wollen die beiden sich den Esel ausleihen, während sie selbst nach ihren Olivenbäumen sieht? Schnell lehnt der Sohn das Angebot ab.
    Als sie aussteigen, lärmen die Zikaden. Es riecht nach trockener Erde und Hitze. Hinter ihnen breitet sich die Bucht aus. Das Geräusch von Traktoren steigt zu ihnen hoch, eine Kirchenglocke schlägt, von der Landstraße schallt das gleichmäßige Rauschen des Nachmittagsverkehrs herüber. In den diesigen Fluren dort unten glänzt Plastik auf Gewächshäusern, an manchen Stellen sieht man rote Ziegeldächer und weiße Wäsche. In der Ferne glitzert das Meer, ehe es in den Himmel übergeht.
    Der Verkäufer hat versprochen, sich am dreizehnten Hochspannungsmast mit ihnen zu treffen. Je höher sie kommen, desto größer werden jedoch die Zweifel. Der Sohn stellt sich Einwänden gegenüber allerdings taub. Nein, nein, er ist sich ganz sicher, dass es hier oben ist. Natürlich, ein Haus müsste mit funktionierender Kanalisation und Elektrizität ausgestattet werden, und außerdem muss eine richtige Straße angelegt werden, die auch noch während der Winterstürme befahrbar ist. Aber warum sollte das nicht möglich sein? Wenn der Bohrer nur lang genug ist, steigt in jedem Brunnen das Wasser. Das bewies doch schon das Haus, an dem sie vorbeigegangen sind. Und gegen die Erdbeben, die auf dieser Seite der Berge drohen, kann man sich auf jeden Fall mit Hilfe japanischer Techniker schützen. Nein, er hat sich in Fachzeitschriften schlaugemacht, die es sicher auch auf Griechisch gibt.
    Die Steine sind scharf, die Büsche schrammen über Schienbeine und Arme. Mit jedem neuen Schritt sieht der Vater mitgenommener aus. Seine Lunge pfeift, die Beine zittern. Der Sohn versucht, sein schlechtes Gewissen zu betäuben, und versichert, dass es nicht mehr weit sein kann. Nach einigem Stolpern erreichen sie schließlich den Betonsockel des dreizehnten Mastes. Die Aussicht ist phantastisch. Aber nichts deutet darauf hin, dass jemals eine Menschenseele ihren Fuß an diesen Ort gesetzt hat, seit das Fundament gegossen wurde. Nichts als Zement und Felsen und unerbittliche Sonne.
    Nach einer halben Stunde gehen sie wieder hinunter. Als sie sich den Anbauflächen nähern, entdecken sie den Verkäufer, der an einen Betonsockel gelehnt Sonnenblumenkerne isst. »Der dritte Mast!«, ruft er und hält die mittleren Finger hoch. Lachend spuckt er die Schalen aus. Als er die Schrammen an ihren Armen und Beinen sieht, wird er jedoch nachdenklich, blickt vom Älteren zum Jüngeren und wieder zurück. Ehe der Sohn etwas sagen kann, schüttelt der Vater den Kopf und bekennt, er sei wohl ein bisschen übermütig gewesen. Aber er habe einfach solche Lust bekommen, seinem Sohn die Aussicht zu zeigen.

Nostalgie

    In der folgenden Nacht träumt der Sohn, dass der Vater im Auto bleibt, während er selbst einen Berg aus Kies zu einem Stanniolzelt direkt unter den Wolken hinaufwandert. Als er nach unten zurückkehrt, enttäuscht darüber, keine Steckdose zur Sonne gefunden zu haben, sagt der Vater: »Du kommst viele Jahre zu spät. Wie froh ich bin, dich zu sehen.«

Rochade bei 24° C

    Nach der Emeritierung erwarten alle, dass der Vater tun wird, wovon er immer gesprochen hat. Jetzt muss er keine Krawatte mehr tragen oder in endlosen Besprechungen über Nichtigkeiten sitzen. Jetzt können die administrativen Verschleppungsspezialisten und bürokratischen Verkomplizierathleten mit ihren Dolchen statt Händen machen, was sie wollen. Er ist unantastbar geworden.
    Aber die Zeit vergeht. Die Obstbäume, die gepflanzt werden sollen, die Bücher, die gelesen werden müssen, die Reisen zu den Kindern in fernen Ländern – alles wird auf die Zukunft verschoben. Stattdessen spielt er die Rolle des Ratgebers. Nun verbringt er seine Tage am Telefon. Wenn der Sohn einen anderen Hörer in der Wohnung abhebt, hört er das fortlaufende Gespräch mit Vertrauten, die sich noch in den Schützengräben befinden. Der Vater erinnert ihn an den König auf einem Schachbrett. Sein Aktionsradius ist zwar begrenzt, aber das Spiel steht und fällt immer noch mit ihm. Als er sich schließlich zum Abendessen einfindet, klagt er. Das Lächeln, mit dem er von den letzten Intrigen erzählt, verrät jedoch, dass er seine Rolle genießt.
    Mit der Zeit werden die Anrufe seltener. Der Vater geht auf und ab. Schließlich ruft er unter dem Vorwand, etwas mit ihm besprechen zu wollen, einen Kollegen an. Als er auflegt – nach wenigen Minuten schon –, ist

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