Die halbe Sonne
er verärgert. Noch hat er nicht entschieden, ob er wütender darüber sein soll, eingeknickt zu sein und sich gemeldet zu haben, oder über die Neuigkeiten, die er soeben erfahren hat. Er entscheidet sich für letzteres und maskiert seinen Ärger darüber, nicht gebraucht zu werden, indem er über Beschlüsse herzieht, die ihn nicht interessieren. Die Einwände wirken aufgesetzt, Wolken ziehen über dem Tisch auf.
Als seine Frau merkt, was sich anbahnt, bittet sie ihn, den Platz mit der zweijährigen Enkelin zu tauschen, die gefüttert werden soll. Danach befindet sich der König nicht mehr im Auge des Sturms. Die Mahlzeit wird bei mildem Wetter mit vereinzelten Wolken beendet.
Ein Koffer kommt vollgeladen
Anlässlich seiner Pensionierung treffen aus nah und fern Glückwünsche ein. Die Blumen machen die Luft schwer und tropisch, im Wohnzimmer drängen sich die Gäste. Immer wieder kommt der Vater in die Küche, um sich zu vergewissern, dass niemand den Schatz angerührt hat. Im Kühlschrank lagern sorgsam verpackt ungarische und italienische Salami, Schinken, kleine Würstchen und Kabanossi, Schweinswürste aus Lyon und Weißwürste aus Bayern, Wiener, Frankfurter und Nürnberger, Bierwürste aus der Pfalz und Jagdwürste, dick wie die Unterarme von Kindern, Griebenwürste und Blutwürste mit Rosinen, Lamm- und Ziegenwürste, ganz zu schweigen von den Leberwürsten, die man mal in Scheiben schneiden, mal mit dem Messer verstreichen kann. Auf dem Fußboden steht der leere Koffer des Sohns.
Als der Vater ins Wohnzimmer zurückkehrt, flüstert er übertrieben laut: »Sobald sie gegangen sind, legen wir los.« Der Sohn prostet ihm mit einem Glas Senf zu.
Hommage
Der Vater bekommt auch ein Buch. Dann vergehen die Jahre. Manchmal fragt sich der Sohn, ob er es gelesen hat. Als der Vater sich in das verwandelt hat, was er nie gewesen ist, aber von nun an bleiben wird, entdeckt der Sohn das Buch in einem Regal. Eine einzige Textstelle darin ist unterstrichen. Auf Seite 100: »Es war einmal ein Vater.«
Überrumpelt erkennt er, was er tun muss.
Orientalismus
Der rechtshändige Vater schneidet sich die Fingernägel mit der gleichen Sorgfalt, mit der die Kalligraphen des Sultans Ornamente zeichneten. Die Bedeutung liegt in der Ausführung, nicht im Inhalt. Als erstes holt er die Schere aus dem Badezimmerschrank. Wenn die Schraube in der Mitte angezogen worden ist und er die Klingen mit der Zunge befeuchtet hat, setzt er sich auf einen Stuhl. Dieser darf weder zu weich sein, noch in der Nähe eines anderen Möbels stehen. Am liebsten soll er auf die Veranda hinausgetragen werden. Danach verteilt er das Gewicht, plaziert ein frisch gebügeltes Taschentuch auf dem Knie und legt die linke Hand darauf. Woraufhin er sich vorlehnt und für einige Sekunden in dieser Stellung verharrt, wie zur Andacht. Anschließend schneidet er die Nägel in sanften, systematischen Kurven. Der Finger, der gerade bearbeitet wird, bleibt regungslos liegen, was dem Ganzen einen zeremoniellen Charakter verleiht. Die rechte Hand ist tätig, die linke Gegenstand der Betätigung.
Sobald die ersten fünf Nägel fertig sind, tauschen seine Hände die Rollen. Erneut wird die Prozedur durchgeführt, diesmal jedoch vorsichtiger. Als er zum dritten Finger kommt, presst er die Zungenspitze gegen die Rückseite der unteren Zahnreihe, so dass sich der Zungenrücken wölbt und wie in einem Schraubstock zwischen den Zähnen steckt. Die Miene verrät äußerste Konzentration. Es ist fraglich, ob selbst ein Fliegeralarm zu ihm durchdringen würde. Nun ist die linke Hand an der Reihe, sich zu bewegen, während die rechte still liegt, als gehörte sie zu einem anderen Menschen – oder vielmehr: als wäre sie ein Kunstwerk kurz vor seiner Vollendung.
Nachdem die Zeremonie abgeschlossen ist, faltet der Vater das Taschentuch zusammen. Sorglos schüttelt er die ausgedienten Mondsicheln im Garten heraus.
Bericht über ein ozeanisches Gefühl
Man nehme den Balkon vor dem Arbeitszimmer. Normalerweise findet der Sohn den Vater dort während der letzten Stunde des Nachmittags, bevor das restliche Haus erwacht und die Rasensprenger eingeschaltet werden. Die Handteller ruhen offen im Schoß, er scheint in etwas versunken zu sein, was weder Gedanken noch Nichtgedanken sind. Der Blick schweift über die Felder und Haine des Nachbarn bis zu den kerzengeraden Zypressen, die das Meer verdecken. Das Geräusch von Wellen öffnet die Riegel in seiner Brust, einen nach dem
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